Hintergrund
NS-Zeit: Eklatante Wissenslücken bei Medizinstudenten
Eine Befragung zeigt: Vielen angehenden Ärzten fehlt das Bewusstsein für die Verbrechen ihrer Berufskollegen.
Veröffentlicht:Was wissen angehende Ärzte von den Verbrechen ihrer Berufskollegen im Nationalsozialismus? Was denken sie über Zwangssterilisierung, Menschenversuche und die späte Entschädigung der Opfer? Diesen Fragen sind Medizinhistoriker der Universität Aachen nachgegangen und haben in ihrer Befragung zum Teil eklatante Wissenslücken aufgedeckt.
Stefanie Westermann, Tim Ohnhäuser und Richard Kühl vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Aachen haben 216 Teilnehmer des Modellstudiengangs Medizin der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen befragt. Sie entwarfen einen Fragebogen, in dem es um das Wissen, aber auch um die Einstellung der angehenden Ärzte zum Thema Medizin und Nationalsozialismus ging.
Über die Verstrickung der Ärzte in das Unrechtssystem der Nazis wissen Medizinstudenten, folgt man der aktuellen Studie, zu wenig. "Nur knapp 14 Prozent aller Befragten wussten, dass Ärzte mit mehr als 45 Prozent die akademische Berufsgruppe mit dem höchsten nationalsozialistischen Organisationsgrad war", fasst Richard Kühl eines der Ergebnisse zusammen. "Etwa 22 Prozent gingen von einem überproportionalen Organisationsgrad aus."
Auffallend sind auch die Wissenslücken in punkto KZ-Ärzte. "Etwa ein Drittel der Befragten konnte mit dem Namen Josef Mengele nichts anzufangen", so Kühl. Immerhin konnten 70 Prozent der Befragten den Begriff "Euthanasie" richtig zuordnen. Knapp 19 Prozent wussten, dass zwischen 300 000 und 400 000 Menschen während der Nazi-Diktatur zwangssterilisiert wurden.
Ein Ergebnis ihrer Umfrage hat die Aachener Medizinhistoriker nachhaltig irritiert: Auf die Frage, ob die im Nationalsozialismus Zwangssterilisierten eine Wiedergutmachung erhalten sollten, antworteten immerhin zehn Prozent der befragten Studenten mit Nein. "Daher schauten wir darauf, wie diese Studierenden die Frage nach der Relevanz des Themas NS-Medizin für heutige Ärzte beantworten", erklärt Kühl. "Und hier fiel eine Korrelation auf: Weniger als fünf Prozent der Befragten hatten dem Thema eine heutige Relevanz unmissverständlich abgesprochen -unter den Gegnern einer Entschädigung waren es viermal so viele."
Im Hinblick auf die tatsächlichen Wissenslücken der Studenten erstaunt, dass immerhin 45 Prozent der Befragten der Auffassung waren, das Thema Medizin im Nationalsozialismus "sei im Studium angemessen berücksichtigt oder nehme zu viel Raum ein", wie Stefanie Westermann berichtet. Dem Fach Medizingeschichte, so vermutet Tim Ohnhäuser, räumen die Studenten "nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Vielzahl an Lehrveranstaltungen einen eher geringen Stellenwert" ein.
Aus den Ergebnissen ihrer Studie, so das Fazit der Historiker, lasse sich in jedem Fall Handlungsbedarf ablesen. Kühl verdeutlicht dies anhand eines weiteren Beispiels: "Es gibt bei einem Teil der Studenten die Vorstellung, dass der NS-Medizin und ihren menschenverachtenden Versuchen bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse zu verdanken seien. Das ist nicht nur historisch-faktisch Unsinn, mulmig wird einem auch immer wieder bei Äußerungen, wie damit umzugehen sei. Eminent wichtig sei es nämlich, diese vermeintlich wichtigen Erkenntnisse heute nutzen zu dürfen. Sätze wie ‚Opfer entschädigen - Forschungsergebnisse nutzen‘ fanden sich nicht selten auf unsere Frage, was für die Medizin die Konsequenzen aus der NS-Zeit sein sollten."
"Keineswegs soll mit der Veröffentlichung der Umfrage der Finger auf die Medizinstudenten gerichtet werden", stellt Tim Ohnhäuser klar. "Neben dem Elternhaus und den Schulen sind es nach der Aufnahme eines Medizinstudiums natürlich die Fakultäten, denen viel daran liegen sollte, dass die angehenden Ärzte ein Bewusstsein entwickeln für die Verführbarkeit ihres Fachs - gerade auch vor dem Hintergrund zukünftiger gesellschaftlicher und medizinischer Entwicklungen, Stichwort Gendiagnostik."
Info: Richard Kühl, Tim Ohnhäuser, Gereon Schäfer (Hrsg.): "Verfolger und Verfolgte - Bilder ärztlichen Handelns im Nationalsozialismus." Erscheint voraussichtlich Anfang 2010 im LIT-Verlag, Münster, und wird etwa 25 Euro kosten.