MHH

Unfallforschung mit Crash-Detektiven

Ein Crash auf der Straße - und ihre Arbeit beginnt: Unfallforscher aus Hannover dokumentieren seit 40 Jahren Unfälle in Niedersachsen. Ihre Erkenntnisse helfen, Sicherheitsstandards für den Verkehr zu verbessern.

Von Christina Sticht Veröffentlicht:
Immer im Einsatz und das möglichst schnell: Unfallforscher bei der Arbeit.

Immer im Einsatz und das möglichst schnell: Unfallforscher bei der Arbeit.

© Stratenschulte/dpa

HANNOVER. Wenn es in der Stadt, auf der Landstraße oder auf der Autobahn kracht, sind sie zur Stelle: Die Unfallforscher der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) analysieren seit 40 Jahren in Niedersachsen Verkehrsunfälle im Auftrag der Bundesregierung.

Häufig ist das dreiköpfige Team schon zehn Minuten nach dem Alarm der Polizei-Einsatzzentrale an der Unglücksstelle. Hier fotografieren und vermessen zwei Techniker die Autos, Schäden und Spuren. Ein Mitarbeiter befragt Verletzte.

Bis zu 3000 technische und medizinische Daten sammeln die Wissenschaftler pro Crash, allein in der Region Hannover rücken sie rund 1000 Mal im Jahr aus.

Schutzwirkung mit Studien belegt

"Wir haben für die Sicherheit im Straßenverkehr viele Impulse gegeben", sagt der Leiter der MHH-Unfallforschung, Professor Dietmar Otte. Als Erfolg verbucht der Fahrzeugingenieur und Biomechaniker etwa die Mitentwicklung von Schutzhelm und -kleidung für Motorradfahrer.

Was heute Standard ist, brachte in den 1970er und 1980er Jahren Helm-Gegner auf die Barrikaden. "Unser Schutzanzug wurde als Ritterrüstung verhöhnt. Als es dann später um den Radhelm ging, wurden wir in Briefen beschimpft", erinnert sich Otte. Die Schutzwirkung des Radhelms sei jetzt mit Studien belegt.

Annähernd 30.000 Unfälle mit 56.000 Fahrzeugen und 40.000 Verletzten haben die Unfallforscher in den vergangenen 40 Jahren erfasst.

130.000 einzelne Verletzungen listen sie in der Datenbank des nach Angaben des Bundesamtes für Straßenwesen bundesweit einmaligen Projekts GIDAS (German In-Depth Accident Study) auf. Seit 1999 ist ein zweites Team im Raum Dresden mit dabei, das ebenfalls 1000 Crashs jährlich untersucht.

Die Daten werden dann repräsentativ für ganz Deutschland aufbereitet.

Wie Detektive setzen die Forscher das Puzzle der Unfallspuren zusammen. Ein 3D-Laserscanner gehört heute zur Ausstattung. Die Zusammenstöße können später am Computer simuliert werden.

Das Team versucht, schnell am Unfallort zu sein, um möglichst wenig anhand von Polizei- oder Krankenakten rekonstruieren zu müssen.

Die Automobilindustrie kooperiert

Notwendig für die Auswertung ist das Einverständnis aller Beteiligten, auch wenn die Daten später anonymisiert werden. Die meisten seien bereit, Auskunft zu geben, wenn man ihnen das Forschungsanliegen erklärt, sagt Rettungsassistent Holger Reinecke, der im Team medizinische Daten sammelt.

Die Ergebnisse fließen in Gesetzesvorhaben ein. Seit 1999 wird die Datenbank gemeinsam mit der Automobilindustrie geführt, parallel betreiben die Hersteller selbst Unfallforschung.

Auf diesem Feld aktiv sind außerdem die DEKRA, der ADAC und der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV.

Die Forscher der Versicherer haben im Gegensatz zu den Hannoveranern Daten aus ganz Deutschland, allerdings studieren sie auch nur Akten und machen Crash-Versuche.

"Die Forschung am Ort ist ein großer Vorteil", sagt der Leiter der Unfallforschung der Versicherer, Siegfried Brockmann. "Ich kritisiere aber, dass die GIDAS-Daten nicht allen Forschern unentgeltlich zur Verfügung stehen." Otte weist diese Kritik zurück.

Gegründet wurde die MHH-Unfallforschung angesichts des traurigen Jahresrekords von 20.000 Unfalltoten Anfang der 1970er Jahre. Im vergangenen Jahr kamen 3600 Menschen auf Deutschlands Straßen ums Leben. Diese Zahl sei immer noch zu hoch, betont Otte.

Es gebe leider noch immer mehr als 300.000 Verletzte und etwa zwei Millionen Verkehrsunfälle jedes Jahr. Besonders notwendig seien vor diesem Hintergrund Weiterentwicklungen der Fahrer- und Fahrzeug-Assistenzsysteme.

"In Zukunft wird es darum gehen, Unfälle zu vermeiden, um dadurch effektiv auch Verletzte und Getötete zu verhindern", sagt der Forscher.

Große Hoffnungen setzt Otte in neue Technik, etwa die "Car-to-Car-Kommunikation", die nicht nur Autos, sondern allen Verkehrsteilnehmern zur Verfügung steht.

Der rechtzeitige Informationsaustausch in Konfliktsituationen könne allen Risikogruppen nutzen, zum Beispiel auch Lkw-Fahrern oder Radfahrern. (dpa)

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