Zuckerkonsum
Warum Süßes sauer aufstößt
90 Gramm Zucker am Tag konsumiert ein Bundesbürger im Schnitt, höchstens 50 Gramm empfiehlt die WHO. Das Zuviel ist nicht ohne Folgen – Übergewicht und Diabetes nehmen weiter zu. Unter dem Motto "süß war gestern" hat die AOK daher eine nationale Kampagne zur Zuckerreduktion gestartet.
Veröffentlicht:BERLIN. Egal, ob Mediziner, Gesundheitsforscher oder Verbraucherschützer: Süßes stößt vielen sauer auf. Denn: "Was Zucker bewirkt, kriegen wir täglich in unseren Praxen mit", sagt der Kölner Kinderarzt Dr. Thomas Fischbach. Er und seine Kollegen sähen "Vierjährige mit schwarzen, faulen Zähnen oder Achtjährige, die so dick sind, dass sie nicht auf einem Bein hüpfen können", berichtet Fischbach, der auch Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte ist. "Zucker spielt eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck, Krebs und Karies", pflichtet die international bekannte Gesundheitswissenschaftlerin Professor Dr. Ilona Kickbusch bei – und fügt hinzu: "Zucker ist schädlich, da gibt es nichts zu diskutieren."
Verstecktem Zucker auf der Spur
Auch Krankenkassen warnen vor den gesundheitlichen Folgen eines zu hohen Zuckerkonsums. Angesichts der starken Zunahme von Übergewicht – etwa 18 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen in Deutschland gelten als übergewichtig oder adipös – fordert der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, von Politik und Lebensmittelindustrie mehr Anstrengungen, den Zuckerkonsum zu drosseln. Entscheidend für Litsch: "Wir brauchen mehr Transparenz über versteckten Zucker in Lebensmitteln."
Um angemessene Entscheidungen über gesunde Ernährung treffen zu können, müssten etwa Eltern abschätzen können, wie viel Zucker in Essen und Getränken enthalten sei, so Litsch. "Aber die Lebensmittelindustrie sträubt sich seit Jahren gegen eine laienverständliche Lebensmittelkennzeichnung." Unterdessen verarbeite sie weiter unnötig viel Zucker in ihren Produkten und werbe flächendeckend mit gezieltem Kindermarketing.
Unter dem Motto "süß war gestern" hat der AOK-Bundesverband deshalb kürzlich Ärzte, Politiker, Wissenschaftler und Vertreter der Lebensmittelindustrie beim 1. Deutschen Zuckerreduktionsgipfel in Berlin zusammengebracht, um Wege zur Zuckerreduktion zu finden. Deutschland liege im europäischen Zuckerranking weit vorne, so Litsch. Das könne sich zu einem "Riesenproblem" auswachsen, "wenn wir nicht gegensteuern". Die Gesundheitskasse jedenfalls werde – auch nach dem vorläufigen Scheitern der Lebensmittelampel – nicht in ihren Bemühungen nachlassen, "beim Thema Zuckerreduktion endlich auch in Deutschland einen Fortschritt zu erzielen". Eine "Allianz zur Zuckerreduktion" solle den Weg weisen. Ziel müssten wirksame Schritte gegen zu viel Süßes im Essen sein.
Die Briten machen es vor
Vorbild für ein solches Bündnis könnte Großbritannien sein. 2014 gründeten dort 22 Spezialisten – darunter Ärzte, Ernährungs- und Sozialwissenschaftler wie auch der Starkoch Jamie Oliver – die Initiative "Action on Sugar". Großbritannien habe ein "ziemliches Problem mit Übergewicht und Typ-2-Diabetes", sagt der Vorsitzende der Kampagne, Professor Graham MacGregor. "Wir sind nicht das am schlimmsten betroffene Land der Welt, aber eines der am schlimmsten betroffenen Länder in Europa, besonders wenn es um Kinder geht."
Die Konsequenz: Großbritannien erhebt inzwischen eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke und untersagt Werbung für Lebensmittel mit hohem Fett-, Zucker- und Salzgehalt in TV- oder Radioprogrammen, die sich an Kinder richten. Bis zum Jahr 2020 soll zudem der Zuckeranteil in wichtigen Lebensmitteln um 20 Prozent gesenkt werden. Derart mehrgleisig fährt kaum ein anderes Land in Europa – ganz zu schweigen von Deutschland, das beim Versuch, den Zuckerkonsum zu zügeln, bislang ziemlich passiv agiert (Karte).
Dass eine freiwillige Zurückhaltung der Lebensmittelindustrie für Abhilfe sorgt, wird von Experten bezweifelt. "Nach den Erfahrungen der letzten Jahre glaube ich daran nicht mehr", sagt etwa Mediziner Fischbach. Der Verband der Kinder- und Jugendärzte wünsche sich stattdessen die Lebensmittelampel. An der könnten sich Eltern schnell und einfach orientieren, wie gesund ein Lebensmittel ist.
Im Tal der Ahnungslosen
Wie wichtig Orientierung ist, zeigt eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Universität Mannheim. Danach befinden sich viele Eltern beim Thema Zucker geradezu in einem Tal der Ahnungslosen. Befragt nach dem Zuckergehalt eines üblichen 250-Gramm-Fruchtjoghurts, lagen laut Studie 92 Prozent der Eltern falsch. Im Schnitt gingen sie von vier Zuckerwürfeln aus – tatsächlich aber sind elf Würfel im besagten Fruchtjoghurt enthalten. Auch beim Müsliriegel lagen viele daneben. Statt von 2,5 tatsächlichen Würfeln meinten 30 Prozent, ein solcher Riegel enthalte nur 1,5 Zuckerwürfel.
Solche Unwissenheit bei den Eltern sei ein möglicher Risikofaktor für Übergewicht bei deren Kindern, gab die Max-Planck-Forscherin Mattea Dallacker zu bedenken. Denn je stärker die Eltern den Zuckergehalt unterschätzten, umso höher falle der Body-Mass-Index der Kinder aus.