"Deutschland ist in Sachen HIV eine glückliche Insel"

Vor 30 Jahren fielen in den USA die ersten Patienten mit einer neuartigen Immunschwäche auf. Sie waren Opfer des HI-Virus, das sich seither in einer beispiellosen Pandemie ausgebreitet hat. Der Internist und HIV-Therapeut Dr. Hans Jäger Aids-Experte der ersten Stunde. Im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" rekapituliert er und gibt einen Ausblick in die Zukunft.

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Modell des Aids-Erregers HIV: Erst mit einer modernen antiretroviralen Kombinations- Therapie ist es gelungen, das Virus in Schach zu halten.

Modell des Aids-Erregers HIV: Erst mit einer modernen antiretroviralen Kombinations- Therapie ist es gelungen, das Virus in Schach zu halten.

© dpa

Ärzte Zeitung: Wann genau hatten Sie das erste Mal mit der Immunschwächekrankheit Aids Kontakt?

Dr. Hans Jäger: Ich arbeitete damals, 1982, als Postdoc in New York im Sloan Kettering Cancer Center. Zu uns kamen plötzlich mehrere homosexuelle Patienten mit ungewöhnlichen Hautkrebserkrankungen. Das waren Kaposi-Sarkome.

Wir haben damals überlegt, ob es sich um eine Immunschwäche handeln könnte, aber zu diesem Zeitpunkt konnte das niemand beweisen. Das HI-Virus ist ja erst 1984 entdeckt worden. Was damals gemacht wurde, waren Therapieversuche mit teilweise sehr hoch dosiertem Interferon. Das hat aber nur wenig gebracht. Die Patienten sind fast alle gestorben.

Ärzte Zeitung: Wann sind Sie in Deutschland mit HIV in Kontakt gekommen?

Dr. Hans Jäger

Aktuelle Position: Inhaber einer HIV-Schwerpunktpraxis in München

Werdegang/Ausbildung: 1976 - 1981 Ausbildung zum Arzt für Innere Medizin, Schwerpunkt: Hämatologie.

Karriere: 1981 - 1989 Aufbau und klinischer Leiter der Ambulanz für Immunschwäche-Erkrankungen, Städtisches Krankenhaus München-Schwabing

1989 - 2011 Vorstand des gemeinnützigen Forschungsinstitutes KIS, Kuratorium für Immunschwäche in München

Wissenschaftlicher Leiter der Münchner AIDS-Tage und anderer Fachtagungen

Jäger: 1984 gründeten wir im Schwabinger Krankenhaus eine Arbeitsgruppe, die sich ambulant und stationär um HIV-Patienten gekümmert hat. Es wurde dann irgendwann klar, dass diese Patienten vor allem ambulant behandelt werden mussten. Im Jahr 1990 bin ich mit dem Schwerpunkt HIV in die Niederlassung gegangen.

Ärzte Zeitung: Wie haben Sie die damalige öffentliche Diskussion in Deutschland erlebt?

Jäger: Bayern war damals ja ein Zentrum der Debatte. Es gab zwei konträre Positionen. Peter Gauweiler hat sehr prononciert für eine isolationistische Herangehensweise plädiert. Auf der anderen Seite stand Rita Süßmuth, die sich HIV eher wissenschaftlich und möglichst nicht diskriminierend nähern wollte.

Sie war gegen die Meldepflicht, auch um HIV-Infizierte nicht zu stigmatisieren. Diese Position hat sich durchgesetzt. Was Bayern angeht, hat sich das Blatt übrigens völlig gewendet: Heute wird in Bayern mehr Geld für sinnvolle Aids-Prävention ausgegeben als in den meisten anderen Bundesländern.

Ärzte Zeitung: Ab wann war es möglich, den Patienten eine mehr als nur symptomatische Therapie anzubieten?

Jäger: Mitte der 80er Jahre kam AZT auf den Markt. Es ist im Nachhinein oft schlechtgeredet worden, zu Unrecht, wie ich finde. Man darf das nicht mit heutigen Maßstäben messen. Es gab damals sonst nichts. In meiner Arbeitsgruppe sind im Jahr vor Einführung von AZT 22 Patienten gestorben, im Jahr danach waren es zwei.

Natürlich waren AZT und überhaupt die Monotherapie nicht ausreichend. Aber viele Patienten haben dadurch Zeit gewonnen, auch der Effekt auf die Symptome war dramatisch. Die Patienten hatten Fieber und Nachtschweiß, teilweise massive neurologische Störungen und oft auch Schmerzen als Folge der opportunistischen Infektionen. Bei denen, die auf AZT angesprochen haben, war das alles plötzlich kein Thema mehr.

Der zweite Durchbruch kam Mitte der 90er Jahre, als wir langsam verstanden haben, wie sich das HI-Virus vermehrt. Das war eine gemeinsame Leistung von Ärzten, Virologen und Mathematikern, die letztlich zu den Kombinationen führte, die wir heute einsetzen. Wichtig war auch die Weiterentwicklung der Diagnostik mit der Bestimmung der Viruslast. Das geht auch erst seit Mitte der 90er Jahre.

Ärzte Zeitung: Warum ist die Zahl der HIV-Infizierten in Deutschland so gering geblieben - auch im Vergleich zu anderen Industrienationen?

Jäger: Deutschland ist in Sachen HIV in der Tat eine glückliche Insel. Wir haben derzeit etwa 2700 Neuinfektionen pro Jahr. Gut die Hälfte geht auf Indexpatienten mit hoher Viruslast nach akuter Infektion zurück, die noch nicht wissen, dass sie HIV-infiziert sind. Jede dieser Infektionen ist eine zu viel, aber es stimmt schon, in Europa sind wir damit im unteren Drittel.

Ein wichtiger Grund ist sicher, dass wir frühe und effektive Präventionskampagnen hatten, gerade auch Kampagnen, die auf die homosexuelle Bevölkerung zugeschnitten waren. Dort liegt ja in Deutschland mit 60 bis 80 Prozent der Neuinfektionen nach wie vor die Hauptlast der Erkrankung. Hier wurde Safer Sex früh propagiert und gut durchgehalten. Derzeit stellt sich die Frage, ob und wie die Empfehlungen optimiert werden können.

Ärzte Zeitung: Was würden Sie vorschlagen?

Jäger: Wir wissen aus Studien, dass ein HIV-Infizierter, bei dem unter Therapie ein halbes Jahr lang keine Viren nachweisbar waren und keine anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen vorliegen, nicht mehr infektiös ist. Darauf könnte man schon neue Empfehlungen aufbauen. Wichtig sind natürlich eine gute Therapie-Adhärenz und regelmäßige Messungen der Viruslast.

Ärzte Zeitung: Können HIV-Infizierte in Deutschland heute medizinisch und sozial ein ganz normales Leben führen?

Jäger: Medizinisch ja. Lebenserwartung und Lebensqualität sind vergleichbar mit Diabetes oder Hypertonie. Sozial gibt es dagegen weiterhin große Diskriminierungspotenziale. Man kann beispielsweise noch immer nicht über HIV sprechen, ohne Gefahr zu laufen, den Arbeitsplatz zu verlieren.

Ärzte Zeitung: Gibt es bei der Arzneimitteltherapie der HIV-Infektion heute noch Verbesserungsmöglichkeiten?

Jäger: Die HIV-Infektion ist über die Jahre von einer tödlichen Erkrankung zu einer schweren chronischen Erkrankung und schließlich zu einer in vielen Fällen komplexen, aber gut behandelbaren chronischen Erkrankung geworden. Mittlerweile geht es auf den großen AIDS-Konferenzen immer stärker um Heilung.

Wir wissen von der Hepatitis C, dass chronische Virusinfektionen grundsätzlich heilbar sind. Es gibt bei HIV einzelne Berichte über Heilungen. Diesen Weg müssen wir gehen. Ich bin überzeugt, dass das eher eine Sache von Jahren als von Jahrzehnten ist. Potenziell kurative Therapien kommen sicher schneller als eine Impfung.

Ärzte Zeitung: Was sind dabei die vielversprechendsten Ansätze?

Jäger: Es gab einen HIV-Infizierten in Berlin, der nach einer Knochenmarktransplantation zur Behandlung seiner Leukämie das Virus eradiziert hat, weil sein Spender eine bestimmte Genveränderung - eine CCR5-Deletion - hatte, die das Virus nicht angehen ließ. Das versucht man jetzt gentechnisch nachzubilden. Die Idee dabei ist, patienteneigene T-Zellen genetisch zu verändern und dann zu retransfundieren.

Der zweite Ansatz, den wir zusammen mit sieben weiteren HIV-Zentren verfolgen, setzt auf eine Fünffachkombination mit anschließendem Einsatz eines neuen Medikaments, das darauf zielt, die restlichen sogenannten latent HIV-infizierten Zellen zu beseitigen.

Diese Studie läuft derzeit mit 40 Patienten, sie wird noch einige Jahre laufen. Was wir jetzt schon sagen können ist, dass die Fünffachkombi gut vertragen wird. Es hat bisher niemand wegen Nebenwirkungen die Studie beendet.

Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz

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