Gastbeitrag

Das Ende der Schweigepflicht?

Von Andreas Meißner

Die elektronische Patientenakte soll nicht nur den Austausch unter Kollegen verbessern. Sie soll auch Daten für Forschung liefern. Bleibt die Frage, wer alles solche Forschungsinteressen anmelden kann.

Das Ende der Schweigepflicht?

Dr. Andreas Meißner ist in München niedergelassener Psychiater und Psychotherapeut.

© privat

Keinen Impfpass mehr suchen müssen, sondern alle Befunde an einer Stelle haben – das klingt gut. Ist aber bedenklich, wenn es bei der elektronischen Patientenakte statt um Gesundheit mehr um das Sammeln von Daten geht. Daten, die jetzt automatisch fließen, an die Forschung und in den europäischen Datenraum. Die Möglichkeit zum Widerspruch dagegen wird leicht übersehen. Wenn dann noch Künstliche Intelligenz (KI) Behandlungen zeitgleich verwerten soll, ist die Schweigepflicht zerstört. Daten sind die Bezahlwährung der modernen Zeit. Jetzt nicht nur bei Amazon, Google oder Microsoft, sondern auch im deutschen Gesundheitswesen. So unbemerkt, wie Sie eine elektronische Patientenakte bekommen, so unbemerkt fließen die Daten dann weiter an ein staatliches Forschungsdatenzentrum. Sind die Daten einmal dort, ist keinerlei Kontrolle mehr darüber möglich.

Hier soll dann die forschende Industrie die Nutzung der Daten beantragen können. Entscheidend dabei ist der Nutzungszweck, nicht der Absender. So könnten auch Konzerne wie Amazon und Google hier Daten anfordern, denn auch sie und ihre Tochterunternehmen sind im Gesundheitsbereich aktiv. Die Daten sollen für gemeinwohlorientierte Forschung genutzt werden – die sich jedoch selten von Gewinnorientierung trennen lässt. So gibt es zahlreiche Verbindungen zwischen Universitäten und der Industrie, die ihrerseits neue Absatzmöglichkeiten sucht. Den Zugang zu den Daten genehmigt eine Zugangsstelle, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelt ist. Dies ist eine dem Bundesgesundheitsministerium nachgeordnete Behörde, die somit selbst ein politischer Player ist. Aktuell sieht es so aus, dass letztlich ein Sachbearbeiter dieses Instituts darüber entscheidet, ob ein Antrag genehmigt wird, was gemeinwohlorientiert ist und welche Gesundheitsdaten weitergegeben werden.

Auch diesem Datenfluss an das Datenzentrum müssen Sie aktiv widersprechen, wenn Sie dies nicht wünschen. Die Frage ist, ob die gewonnenen Daten die Forschung überhaupt verbessern und ob nicht andere Forschungshindernisse bestehen als der oft behauptete Datenmangel. An die Daten der E-Akte jedenfalls wollen viele, nicht nur Forschungsinstitute oder Universitäten. So hatten beispielsweise neben der Pharmaindustrie auch der Bundesverband der Deutschen Industrie und der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie schon ihr Interesse daran angemeldet. Das sind nicht unbedingt Verbände, die direkt in die Behandlung von Patientinnen und Patienten involviert sind.

„Verbindlich“ bedeutet Zwang

Die Akte selbst kommt nun also automatisch für jede Bürgerin und jeden Bürger. Sie wird „verbindlich“, informiert ein Werbeportal für Ärztinnen und Ärzte. So kann man Zwang auch umschreiben. Er betrifft im Übrigen auch Privatversicherte, wenn ihre Krankenversicherung eine ePA innerhalb der TI anbietet. Bisher musste die Akte von Versicherten aktiv bei der Kasse beantragt werden, wofür ein Registrierungsprozess nötig war. Ob es allein wegen dieser Komplexität war, dass nur ein Prozent der Versicherten diese Möglichkeit genutzt hat, sei dahingestellt.

In meiner Praxis zumindest hat seit 2021, als die freiwillige Beantragung einer ePA eingeführt wurde, niemand danach gefragt – davor im Übrigen ebenso nicht. Die ePA-App kann zudem durch Patientinnen und Patienten nur mittels Smartphone oder Tablet mit allen Funktionen bedient werden, an einem üblichen Computer jedoch nur eingeschränkt. Hier ist es beispielsweise nicht möglich, eigene Dokumente in die ePA zu laden oder dort welche zu löschen. Das passt zum jetzt politisch vollzogenen Wandel von einer „patientengeführten“ zu einer „patientenzentrierten“ ePA. Was bedeutet dieser feine Unterschied? Eine Staatssekretärin aus dem Gesundheitsministerium hatte dazu bemerkt, dass es ganz viele Menschen gäbe, „die möchten, dass die Ärzte und die Forschung an die Daten kommen, aber keine Lust haben, sich damit auseinanderzusetzen, wie das funktioniert“. Daher gelte es jetzt, von einer patientengeführten Akte hin zu einer patientenzentrierten Akte zu kommen.

Ein üppiger Datenfluss ist garantiert

Die Befüllung der ePA erfolgt ebenso mit Zwang: Ärzte und Ärztinnen sind verpflichtet, die Akte zu befüllen, mit Arztbriefen, Laborwerten, Befunden und Medikationsplan. Weitere Elemente werden folgen. Diese Daten sollen mittelfristig von alleine aus dem Praxiscomputer in die Server-Akte fließen. Das soll zwar der Arbeitserleichterung dienen, befördert aber vor allem den gewünschten und unkontrollierten Datenfluss. Somit stehen mittels automatisch eingerichteter ePA und der Pflicht, sie zu befüllen, wie von allein alle Daten zur Verfügung, die dann, wiederum automatisch, an das staatliche Forschungsdatenzentrum und in den europäischen Gesundheitsdatenraum fließen. Ein üppiger Datenfluss ist somit garantiert.

Vermutlich werden nur wenige Versicherte, so sie nicht gesondert aufgeklärt werden, der Anlage einer ePA oder der Weiterleitung ihrer Daten an die Forschung widersprechen, dies vor allem aus Überforderung im Alltag heraus, aus Gleichgültigkeit oder auch aus Furcht, Nachteile in der Behandlung zu erleiden. Eine Patientin fragte kürzlich bereits, ob sie denn aus dem System fliege, wenn sie da nicht mitmache. Ich konnte sie beruhigen. Nachteile sollen Patienten nicht entstehen, wenn sie widersprechen, heißt es bisher. Aber der moralische Druck ist hoch, seine Daten solidarisch zu „spenden“.

Können Patient:innen diesem IT-Projekt vertrauen? Verbessert sich ihre Versorgung dadurch, oder werden sie nur zu Datenlieferanten für eine wachsende Gesundheitsindustrie und für KI? Festzuhalten bleibt: Nicht Daten sind die entscheidende Währung im Gesundheitswesen, sondern Schweigepflicht sowie Vertrauen – auch darauf, dass das Gesagte im Raum bleibt, und nicht andere Interessen als Behandlung und Beratung eine Rolle spielen.

„Die elektronische Patientenakte - vom Ende der Schweigepflicht“ von Dr. Andreas Meißner, erscheint am 13.05.2024 im Westend Verlag, 72 Seiten, ISBN: 9783864894725, Preis: 10 Euro

Das Ende der Schweigepflicht?

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