Gastbeitrag

Auch die Homöopathie hat einen berechtigten Platz in der wissenschaftsbasierten Medizin!

Von Helmut Kiene, Harald J. Hamre und David Martin

Der Beschluss des 128. Deutschen Ärztetags gegen die Homöopathie hat die Diskussion über deren Stellenwert wieder angefacht. Unsere Gastautoren haben eine Apologie der Homöopathieverfasst.

Auch die Homöopathie hat einen berechtigten Platz in der wissenschaftsbasierten Medizin!

Dr. Helmut Kiene, Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie, Freiburg i. Brsg. An-Institut der Universität Witten Herdecke

© Universität Witten Herdecke

Warum haben 97 von 213 Delegierten beim Ärztetag nicht gegen die Homöopathie gestimmt? Quantitativ repräsentieren sie 190.000 Ärztinnen und Ärzte. Ihnen wäre vorzuwerfen, dass sie an etwas festhalten möchten, das nach gegenwärtig vorherrschendem Narrativ in Widerspruch zur Naturwissenschaft stehe, keine spezifische Wirksamkeit habe, nur Kontext- bzw. Placeboeffekte erzeuge und sogar ein versorgungsrelevantes Gefahrenpotenzial besitze. Angesichts der Schwere solcher Vorwürfe ist es spätestens jetzt wichtig, die wissenschaftliche Datenlage zu kennen. Auf dem Ärztetag wurde der aktuelle Stand der Wissenschaft weder systematisch vorgestellt noch hinlänglich diskutiert.

Was sagen Laborexperimente zu Hochpotenzen?

Effekte homöopathisch potenzierter Präparate wurden in mehr als 1500 Laborexperimenten untersucht und auch metaanalytisch evaluiert . Signifikante Effekte wurden in verschiedenen Arten von Testsystemen nachgewiesen und teilweise repliziert: physikalisch-chemisch , in vitro , Pflanzenbasiert , Tier-basiert .

Ist Homöopathie wirksam – jenseits von Placebo?

Es gibt mehrere Hundert randomisierte Homöopathiestudien zu verschiedenen Indikationen. Hierzu gab es viele Meta-Analysen (MA), die meisten zu spezifischen Indikationen. In sechs MA wurde untersucht, ob sich die Ergebnisse der Homöopathie insgesamt von Ergebnissen unter Placebo unterschieden. Hierfür wurden jeweils Placebo-kontrollierte Studien zu jeglicher Indikation zusammen ausgewertet. Dabei unterschieden sich die MA bezüglich Publikationsjahr (1997-2017) und Methodik (u.a. Einschlusskriterien, Bewertung von Verzerrungsrisiko, Datensynthese). Auch Ergebnisse und ihre Interpretationen variierten.

Im Oktober 2023 wurde ein systematisches Review zu diesen sechs MA in der renommierten Zeitschrift Systematic Reviews publiziert . Gegenstand eines solchen Reviews sind die MA, die darin ausgewerteten Einzelstudien spielen nur am Rande eine Rolle. Ein zentraler Bestandteil ist die Bewertung der Qualität der Gesamtevidenz anhand eines Kriterienkatalogs (GRADE-System). Hier werden Methodik und Ergebnisse der MA nebeneinandergestellt, verglichen und bewertet. Durch diese kritische Gesamtschau ergibt sich ein differenzierterer Blick und größere Sicherheit für die Beurteilung der Homöopathie-Wirksamkeit als in jeder der MA für sich. In dieser Gesamtschau war Homöopathie wirksamer als Placebo :

Fünf der sechs Meta-Analysen enthielten jeweils eine zusammenfassende Effektschätzung für alle eingeschlossenen Studien. Alle fünf zeigten signifikant positive Effekte der Homöopathie, im Vergleich zu Placebo.

Vier MA enthielten eine Effektschätzung nach Beschränkung auf Studien mit höherer methodischer Qualität. In drei dieser vier Analysen blieben die signifikanten positiven Effekte der Homöopathie erhalten, in einer MA blieb der Effekt positiv, aber nicht signifikant.

Die methodische Qualität der Homöopathiestudien war ähnlich oder höher als bei anderen klinischen Studien mit gleichem Design, aus vergleichbarem Zeitraum und bewertet nach gleichen Kriterien.

Die Einstufung der Qualität der Gesamtevidenz für Homöopathie (hoch / moderat / niedrig / sehr niedrig) war hoch für individualisierte Homöopathie (in zwei MA untersucht), moderat für nicht-individualisierte Homöopathie (eine MA) und moderat für jegliche Homöopathie (drei MA). Nach Beschränkung der Evidenzquellen auf die drei MA mit geringem Verzerrungsrisiko wurde die Qualität der Gesamtevidenz für jegliche Homöopathie nunmehr als hoch eingestuft, die anderen Einstufungen blieben unverändert.

Für eine generelle Unwirksamkeit, d.h. keinen Unterschied zwischen Homöopathie und Placebo, gab es keine Anhaltspunkte.

Das Review kann nicht ohne weiteres abgetan werden. Bei der offenen Begutachtung des Publikationsmanuskript war kommentiert worden: „The author’s research is rigorous and has strong data analysis skills“ und „This is an extremely detailed and well written systematic review of meta-analyses of trials in homeopathy“ . Spätere kritische Kommentare beruhten dagegen auf Unkenntnis oder Missverständnissen der Methodik eines Systematischen Reviews von MA . Das gilt auch für Aussagen des Antragstellers gegen Homöopathie beim Ärztetag. U. a. wurde angenommen, die Autoren hätten eine neue Effektschätzung aller Studien der sechs MA vorgenommen, und dabei habe es eine Mehrfachverwendung von Studien gegeben, die in mehr als einer MA vorkamen, mit einem „Multiplikationsergebnis“. Das Review enthielt jedoch keinerlei neue Effektschätzungen von Einzelstudien, sondern nur Bewertungen der sechs MA.

Wie kann Homöopathie überhaupt wirksam sein?

Oft wird eine Wirksamkeit homöopathischer Hochpotenzen a priori für unmöglich gehalten, da keine Wirkstoffmoleküle enthalten seien. Diese Annahme beruht auf einem Modell der Natur aus dem 19. Jahrhundert, wonach die gesamte Lebenswelt nur aufgrund der Wechselwirkungen von Atomen und Molekülen erklärt werden könne. Solche Apriori-Annahmen sind jedoch durch neuere Untersuchungen und Erklärungsansätze weitgehend überholt. Empirisch gestützte Erklärungsansätze betreffen Modifikationen der Moleküldynamik in potenzierten Arzneien und darüber hinausgehende zusätzliche Erweiterungen des Materieverständnisses . Es zeigt sich, dass Wirkungen homöopathischer Hochpotenzen weder im Gegensatz zu Naturgesetzen noch überhaupt im Gegensatz zur Naturwissenschaft stehen müssen .

Warum wird Homöopathie oft negativ beurteilt?

Der hauptsächliche Grund für negative Beurteilungen ist der Glaube, dass Homöopathie prinzipiell nicht wirksam sein könne. Hieraus ergibt sich:

Ein Zirkelschluss: „Wir wissen“, dass Homöopathie unwirksam sei. Also betrachten wir Studiendaten unter einer Perspektive, in der durch Ausblenden oder Wegerklären positiver Ergebnisse eine Unwirksamkeit erscheint. Also können wir „nachweisen“, dass Homöopathie unwirksam ist – was wir schon „wussten“ .

Zweierlei Maß: Erstens werden bei Bewertungen von Homöopathie-Studien oft höhere methodische Anforderungen angelegt als bei sonstigen klinischen Studien . Zweitens werden bei Aussagen zu vermeintlichen Evidenzmängeln der Homöopathie oft sehr niedrige methodische Anforderungen gestellt . Viele der bekannten negativen Homöopathiebeurteilungen folgen diesen Mustern . Ähnlich ist es mit dem Vorwurf, es gebe speziell in der Homöopathie ein Problem mit Publikationsbias . Die Größenordnung des Publikationsbias liegt aber in der Homöopathie gleich wie in der konventionellen Medizin .

Schließlich gibt es eine Immunisierung gegenüber allen Positivergebnissen aus Homöopathiestudien, indem definiert wird, Homöopathie habe per Prinzip keine Wissenschaftlichkeit. Homöopathie gelte deshalb als „wissenschaftliches Nullfeld“, in dem alle, auch in randomisierten placebokontrollierten Studien gefundenen positiven Ergebnisse notwendig das Resultat methodischer Verzerrung seien . Auch sollten zur Homöopathie prinzipiell keine Studien durchgeführt oder zumindest nicht von Zeitschriften publiziert werden . Hier werden die empiristischen Grundprinzipien der evidenzbasierten Medizin aus dogmatischen Gründen gebeugt.

Ist die Anwendung von Homöopathie gefährlich?

Es wird argumentiert, die Existenz von Homöopathie bedeute die Gefahr, dass wirksame Therapien unterlassen werden. Dieses Argument ist jedoch eine pauschalisierende Annahme ohne Evidenzgrundlage. Fraglos gibt es in der Medizin ärztliche Kunstfehler, auch werden erforderliche Therapien aus unterschiedlichen Gründen bisweilen nicht in Anspruch genommen. Ob dies im Kontext von Homöopathie häufiger vorkommt, kann nur durch empirische Evidenz beantwortet werden, nicht durch Mutmaßungen.

Ein Review zu dem Thema der verspäteten Behandlung bzw. Symptomverschleppung bei homöopathischer Behandlung fand in der Weltliteratur acht Publikationen zu insgesamt 16 Patienten , jedoch konnte bei Nachrecherchen in den Originalpublikationen nur in einem einzigen (!) der 16 Fälle bestätigt werden, dass bei Einnahme von Homöopathika und Nichtanwendung eines indizierten Medikaments Komplikationen aufgetreten sind (bei Unterlassung einer Malariaprophylaxe wegen früherer schlechter Prophylaxeverträglichkeit, was allerdings auch unabhängig von Homöopathie ein Dilemma der Malariaprophylaxe ist ). Im Übrigen zeigten vergleichende Studien (randomisierte Studien und Beobachtungsstudien zu verschiedenen Indikationen), dass Nebenwirkungen bzw. Komplikationen unter Homöopathie vergleichbar häufig bzw. signifikant seltener sind als unter Placebo oder konventioneller Therapie.

Hat die Homöopathie

Platz im Gesundheitswesen?

Es ist nicht durchgängig geklärt, bei welchen Beschwerden, nach welchen Vorbehandlungen, mit welchen Vorerfahrungen, mit welchen Vorinformationen und mit welcher Perspektive die Patienten homöopathisch behandelnde Ärzte überwiegend aufsuchen. Ein fundiertes Urteil über die Funktion der Homöopathie im Gesundheitswesen ist deshalb nicht ohne Weiteres möglich.

Zu beachten ist jedenfalls die oben genannte Wirksamkeits- und Sicherheitsevidenz, ebenso auch die Frage, ob durch die Einsatzmöglichkeit homöopathischer Arzneimittel ein unter Umständen für Patienten (und Umwelt) belastender Einsatz anderer Arzneimittel reduziert werden kann. Beispielsweise finden sich mehrere Studien, die bei Erkrankungen der oberen Atemwege und des HNO-Bereichs einen mindestens ebenso guten Therapieverlauf unter homöopathischer Behandlung dokumentieren wie unter der jeweiligen Standardtherapie, allerdings mit deutlich weniger Antibiotika .

Man mag sich für die Beurteilung der Homöopathie einen noch größeren Korpus an externer Studienevidenz wünschen, aber dies gilt auch für sonstige Bereiche der Medizin. Sogar in einem so forschungsintensiven Bereich wie der Kardiologie beruhen nur 14 Prozent der Leitlinienempfehlungen auf Level-A-Evidenz und 55 Prozent auf bloßer Experteneinschätzung . Da in der modernen evidenzbasierten Medizin auch die ärztliche Expertise und die Patientenperspektive als relevant gesehen werden, gilt dies auch für die Homöopathie. Ein hoher Prozentsatz der Bürger hat Wertschätzung für Homöopathie .

Homöopathika als Arzneimittel

Die überwiegende Mehrzahl homöopathischer Arzneimittel hat (anders als Arzneimittel der konventionellen Medizin) keine herkömmlichen Indikationen. Klassische Homöopathie wird nicht nach dem konventionellen System der Krankheitsklassifikationen (ICD) eingesetzt, sondern nach einer einheitlichen Methode. Dementsprechend ist die Wirkung in Placebo-kontrollierten Studien einheitlich (statistisch homogen ). Für das Funktionieren des Systems der klassischen Homöopathie müssen mehr als 1.000 Arzneimittel vorgehalten werden, mit je vielfachen Einsatzmöglichkeiten bei unterschiedlichen Indikationen. Die betreffenden Arzneimittel sind deswegen auch nicht indikationsbezogen zugelassen, sondern nur registriert. Dies ist keine Privilegierung der Homöopathie, sondern eine adäquate administrative Handhabung.

Es ist eine nicht zutreffende und illusorische Vorstellung, dass für jedes homöopathische Arzneimittel und jede Therapieoption eine eigene Wirksamkeitsstudie durchzuführen wäre. Eine komplette indikations- und arzneimittelbezogene Abdeckung der Homöopathie würde viele hundert Milliarden Euro erfordern, was strukturell, personell und finanziell nicht leistbar ist, was gerade für die klassische Homöopathie auch nicht sinnvoll wäre.

Für die Zulassung/Nachzulassung bzw. Registrierung/Nachregistrierung homöopathischer Arzneimittel ist die Abteilung IV des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zuständig . Die Behörde ist verpflichtet, vor diesbezüglichen Entscheidungen externe Sachverständige zu hören, weswegen am BfArM speziell für die Homöopathie die sogenannte Kommission D eingerichtet wurde. Dass Homöopathieexperten zugezogen werden, ist selbsterklärend, so wie man auch zu Themen der Kardiologie oder Onkologie vor allem Experten aus der Kardiologie bzw. Onkologie zuzieht. Sachverständige anzuhören, ist ein Kennzeichen einer offenen, transparenten Gesellschaft. Und Gründe darzulegen im Falle einer abweichenden Entscheidung, ist die Gewährleistung von Transparenz und Rationalität. Dies alles hat nichts mit einer oft behaupteten Binnenkonsens-Zulassung zu tun, sondern ist eine Regelung, die der Homöopathie spezifisch angemessen ist.

Therapeutischer Pluralismus und Integrativmedizin

Die gleichzeitige Existenz verschiedener Therapierichtungen entspricht einem pluralistischen Grundelement der Wissenschaft. Schon in der Mathematik gibt es unterschiedliche axiomatische Ansätze , sodann gibt es in den Naturwissenschaften pluralistische Erklärungsansätze mit konkurrierenden und komplementären Modellen auf verschiedenen Ebenen sowie einem Pluralismus der Evidenzarten . Insgesamt gesehen gibt es eine Pluralität von wissenschaftlichen Denkstilen, Denkkollektiven und Paradigmen . Analog hierzu existiert der medizinische Pluralismus verschiedener Therapierichtungen mit ihren partiell unterschiedlichen Auffassungen von Mensch und Natur. Die generelle Wissenschaftsverpflichtung ist hierdurch jedoch nicht aufgehoben .

Sicherheit, Qualität und Transparenz der Daten und Fakten zur Wirksamkeit sowie eine informierte Entscheidungsfindung auf Augenhöhe müssen gewährleistet sein. Unter dieser Voraussetzung dient der Pluralismus der Medizin den pluralistischen Patientenperspektiven und der Komplexität von Erkrankung und den teils langen Krankengeschichten. Innerhalb der medizinischen Profession sind nicht gegenseitige Ausgrenzung gefragt, sondern konstruktiver Dialog und intellektuelle Redlichkeit .

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Das Narrativ, dass Homöopathie in Widerspruch zur Naturwissenschaft stehe und primär nur Placeboeffekte erzeuge und deshalb in einer wissenschaftsorientierten Medizin keinen Platz habe, ist zwar verbreitet und wird allenthalben wiederholt, steht aber nicht in Einklang mit dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung. In der öffentlichen Homöopathie-Diskussion und bei den Bemühungen, die Homöopathie radikal aus dem Gesundheitswesen zu verdrängen, sollten die vorhandenen Forschungsergebnisse sorgfältig und umfassend zur Kenntnis genommen werden.

Literatur in der Online-Version und bei den Verfassern www.ifaemm.de/forschung/4-1-homoopathie-wissenschaft/

Das Narrativ, dass Homöopathie primär nur Placeboeffekte erzeuge und deshalb in einer wissenschaftsorientierten Medizin keinen Platz habe, ist zwar verbreitet. Es steht aber nicht in Einklang mit dem aktuellen Stand der Forschung.

Auch die Homöopathie hat einen berechtigten Platz in der wissenschaftsbasierten Medizin!

Dr. Harald J. Hamre, wie Dr. Helmut Kiene

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Auch die Homöopathie hat einen berechtigten Platz in der wissenschaftsbasierten Medizin!

Prof. Dr. David Martin, Lehrstuhl für Medizintheorie, Institut für integrative Medizin, Universität Witten/Herdecke

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