Gegen Fake News im Gesundheitswesen
AOK-Expertin im Interview: Warum Selbsthilfegruppen eine gute Adresse sind
Menschen mit chronischen Erkrankungen sind eine Zielgruppe für gesundheitsbezogene Fake News. Claudia Schick, Referentin für Selbsthilfeförderung beim AOK-Bundesverband, über Falschinformationen in sozialen Medien sowie auf seriösen Nachrichtenportalen und über Gegenstrategien.
Veröffentlicht:Frau Schick, warum sind Menschen mit chronischen Erkrankungen ein zentrales Ziel von Falschinformationen?
Die Betroffenen, immerhin rund 40 Prozent der Bevölkerung, haben oft eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Mit dem Klick auf einen Internetartikel verbinden sie nicht selten die Hoffnung, einen neuen, lebensverändernden Tipp zu erhalten. Anbieter vermeintlicher Wundermittel wissen das – sie machen sich die Vulnerabilität chronisch kranker Menschen zunutze.
Die Masse von Gesundheitsthemen im Netz ist unüberschaubar. Wie viel davon gilt als Desinformation?
Eine Untersuchung der Universität von Cadiz hat 2021 die Ergebnisse aus 69 weltweiten Studien zusammengetragen, um zu ermitteln, wie weit verbreitet gesundheitsbezogene Desinformation in den sozialen Medien ist. Die Ergebnisse sind erschreckend. Ein großer bis sehr großer Teil der in der Studie identifizierten Beiträge in sozialen Medien zu Gesundheitsthemen war nicht evidenzbasiert.
Bei welchen Themen gab es laut der Studie besonders viele Falschaussagen?
Bei Beiträgen mit Bezug zu Nikotinprodukten und anderen Suchtmitteln wurden bis zu 87 Prozent der Beiträge als Desinformation eingeordnet. Beim Thema Impfungen lag der Anteil an Desinformation der Studie zufolge bei 43 Prozent, beim Thema Ernährung bei 36 Prozent und bei medizinischen Therapien immerhin bei 30 Prozent.
Sind gesundheitsbezogene Desinformation vor allem ein Problem der sogenannten sozialen Medien?
Nein. Auch seriöse Nachrichtenportale sind betroffen. Wer etwa Gesundheitsartikel auf Nachrichtenplattformen aufruft, stößt am Ende der Lektüre oft auf die gleichen Leseempfehlungen wie in sozialen Medien. Dabei handelt es sich nicht um redaktionelle Beiträge der Plattformen, sondern um Werbeanzeigen, die eben wie redaktionelle Beiträge gestaltet sind und plattformübergreifend ausgespielt werden. Wer eine solche Empfehlung anklickt, findet teilweise atemberaubende Geschichten, in denen angeblich Betroffene ihre Leidensgeschichte schildern und wie sie nach einer Ärzte-Odyssee die lang ersehnte Heilung gefunden hätten.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Selbstverständlich. Auf einem etablierten Nachrichtenportal war eine Anzeige platziert, die Überschrift lautete: „Natürliche Hilfe gegen hohen Cholesterinwert: Ganz ohne Statine und Nebenwirkungen“. Dahinter stand ein offiziell anmutender „Deutscher Gesundheitsfachkreis“. Im Text berichtete eine 45-jährige Redakteurin, wie es ihr mit „einem einfachen Trick“ gelungen sein soll, auf „natürliche Weise“ wieder einen gesunden Cholesterinspiegel zu erreichen.
Dieser „Erfahrungsbericht“ mündet nach langatmigen Ausführungen im Kaufaufruf für hochdosierte Omega-3-Kapseln. Die Redakteurin behauptete, die „ideale Lösung“ für sich gefunden zu haben, „ganz ohne Medikamente und Nebenwirkungen“.
Sie schließt ihren Erfahrungsbericht mit den Worten: „Ich wäre dankbar gewesen, hätte mir jemand früher gesagt, dass es da diese Methode gibt, die mir tatsächlich meine Beschwerden nehmen kann.“
Welche Gefahren sehen Sie darin?
Zunächst ist es grundsätzlich eine perfide Methode, mit Formulierungen offenkundig Verbundenheit mit verunsicherten Menschen herzustellen, die verzweifelt nach einem Wundermittel suchen. Im konkreten Fall dürfte die beworbene Methode mehr schaden als nützen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat kürzlich erst vor hochdosierten Omega-3-Präparaten gewarnt, da diese bei Herzpatienten das Risiko für Vorhofflimmern erhöhen können.
Letztlich ist jeder Internetnutzer selbst verantwortlich, Behauptungen zu prüfen, mehrere und vor allem seriösen Quellen zu nutzen. Schließlich existieren genug faktenbasierte Informationen. Leider ist das nicht ganz so einfach. Die schiere Masse an vermeintlichen Wundermitteln und falschen Aussagen im Netz macht es unmöglich, alle Tricks und Manöver rechtzeitig aufzudecken. Die viel zitierte Formel „Flood the Zone with Shit“ – eine Strategie, wonach in der Flut an Falschbehauptungen die faktenbasierten Einordnungen untergehen – trifft auch auf gesundheitsbezogene Desinformation zu.
Welche Gegenstrategien schlagen Sie vor?
Wie so oft sind verschiedene gesellschaftliche Akteure gefragt. Große Anbieter von qualitätsgesicherter Gesundheitsinformation können ein Gegengewicht bilden, wenn diese gut auffindbar und für Laien verständlich aufbereitet sind.
Wer heutzutage nach Gesundheitsthemen im Netz sucht, landet mit recht großer Wahrscheinlichkeit beim AOK-Gesundheitsmagazin. Dort verzeichnen wir mittlerweile 5,8 Millionen Besucherinnen und Besucher im Monat. Hinzu kommen zahlreiche weitere Kanäle, über die wir qualitätsgesicherte, fachgeprüfte Informationen verbreiten und auch Gesundheitsmythen einordnen. Mit unseren Gesundheitscoaches bieten wir zudem Unterstützung und Informationen für Menschen mit speziellen Erkrankungen wie Depression, ADHS, Diabetes, Krebs und Kinderängsten.
Was ist mit den klassischen Medien?
Journalistinnen und Journalisten kommen im Kampf gegen gesundheitsbezogene Desinformation ebenfalls Schlüsselrollen zu. Durch akribische Recherchen können sie Tricks und Täuschungen von unseriösen Anbietern aufdecken und über die Mechanismen der Desinformation aufklären. Die Faktenchecks und Recherchen von Correctiv, MedWatch sind hierfür positive Beispiele.
Welche weiteren Akteure haben Sie Im Blick?
Hilfreiche Quellen sind auch Verbraucherschutz-Organisationen, etwa die Nahrungsergänzungsmittel-Datenbank der Verbraucherzentralen.
Zu guter Letzt sind für Menschen mit chronischen Krankheiten die Selbsthilfeverbände und Selbsthilfegruppen zentral. Sie bilden oft die erste Anlaufstelle nach einer Diagnose und sind Ort des gegenseitigen Austauschs. Sie sind wichtige Akteure, um die Betroffenenkompetenz zu verbessern und indikationsspezifisch über ihre Erkrankung aufzuklären.
„Indikationsspezifisch“ ist hier ein entscheidender Vorteil. Während Publikumsmedien sich primär weit verbreiteten Phänomenen widmen, können Selbsthilfeverbände sehr spezifisch werden und konkrete Desinformation zu ihrer Erkrankung aufgreifen.
Vielen Dank für das Gespräch!