Interview zur Antibiotika-Versorgung
„Bei Basis-Antibiotika sind wir zu abhängig von Nicht-EU-Ländern“
Hierzulande verordnen Ärzte noch immer zu viele Antibiotika. Gleichzeitig ist Deutschland abhängig von Herstellern außerhalb Europas. Der Infektiologe Professor Winfried Kern über die Notwendigkeit von Fortbildung und die Möglichkeiten der Politik.
Veröffentlicht:Herr Professor Kern, nachdem die Zahl der Verordnungen von Antibiotika 2020 und 2021 rückläufig war, ist sie im Jahr 2022 wieder angestiegen. Sie hatten schon 2020 vor einer zu großzügigen Verordnungspraxis gewarnt und für eine „rationale Indikationsstellung“ plädiert. Warum hat sich seitdem so wenig geändert?
Durch die Pandemie sind die Antibiotika-Verordnungen ambulant und auch stationär zurückgegangen – es gab weniger ärztliche Konsultationen, unter anderem aufgrund unspezifischer Atemwegsinfektionen. Jetzt sind sie wieder angestiegen. Auch wenn die Verordnungshäufigkeit das Niveau von 2019 noch nicht wieder erreicht hat, müssen wir weiterhin auf eine strenge Indikationsstellung achten. Die Schweiz und die Niederlande machen es uns vor: Wir kämen mit weniger Antibiotika im ambulanten Setting aus.
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Reserveantibiotika. Deren Anteil an den Gesamtverordnungen sank zwar leicht, betrug aber immer noch 42 Prozent. Welche konkreten Maßnahmen könnten dazu beitragen, diese Zahl weiter zu senken?
Fortbildung, Fortbildung, Fortbildung. Das ist der Schlüssel, hier noch besser zu werden. Natürlich muss der „richtige“ Anteil von sogenannten Reserve-Antibiotika auch kritisch betrachtet werden. Nicht alle Patientinnen und Patienten können mit den Substanzen erster Wahl erfolgreich behandelt werden. Außerdem: Unter den Reserve-Antibiotika gibt es mehr oder weniger als zweite Wahl geeignete Mittel. Ein Beispiel ist Cefuroximaxetil, das als schlecht resorbierte Substanz in vielen Fällen besser durch andere Oralcephalosporine ersetzt werden sollte, wenn schon nicht auf unsere bewährten Penicillin-Derivate zurückgegriffen werden kann.
In der aktuellen WIdO-Auswertung werden große regionale Unterschiede sichtbar. So lag in Hamburg der Verordnungsanteil von Reserveantibiotika nur halb so hoch wie in Hessen. Auch bei den Antibiotikaverordnungen insgesamt werden aus Hamburg deutlich niedrigere Zahlen gemeldet als aus anderen Bundesländern. Woraus könnten solche Differenzen resultieren?
Die regionalen Unterschiede bei den Antibiotika-Verordnungen sind nach wie vor verblüffend. Die Ursachen sind vielfältig. Oft sind es lokale Meinungsführer aus Klinik und Praxis, die eine solche Verordnungspraxis mitbedingen. Es sind aber auch Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen Gebieten mit mehr oder weniger Zugang zu Fachärztinnen und Fachärzten, zwischen mehr akademisch gebildeten Bevölkerungsanteilen und mehr körperlich und handwerklich arbeitenden Menschen, die solche Unterschiede mitbedingen. Insofern ist es schwierig, Hamburg als Stadtstaat mit Hessen als gesamtes Bundesland zu vergleichen.
Sie hatten 2020 darauf hingewiesen, dass große Firmen kaum noch in Forschung und Entwicklung von Antibiotika investieren. Gleichzeitig steige die Zahl der Antibiotika-Resistenzen. Der aktuellen WIdO-Auswertung zufolge hat sich daran wenig geändert. Welche Ursachen hat diese Zurückhaltung der Industrie aus Ihrer Sicht?
Tatsächlich gibt es inzwischen zahlreiche Projekte, die Unterstützung aus öffentlichen Geldern für die Forschung zu neuen Antibiotika erhalten. Hier gibt es auch durchaus Erfolge. Ein Problem ist die oft langwierige Entwicklungszeit bis zur Marktreife.
Es darf auch nicht vergessen werden, dass einige dieser neuen Antibiotika-Wirkstoffe für den Bedarf in anderen Regionen der Welt, in denen die Resistenzsituation noch viel problematischer als bei uns ist, entwickelt werden. Das heißt: Erfolge sind hier manchmal nicht direkt für uns spürbar, aber doch vorhanden.
Die Politik muss aber letztlich auch im Bereich sichere Produktion und Vermarktung von Basis-Antibiotika investieren. Hier sind wir zu abhängig von Produzenten außerhalb Europas. Bei Produktionsausfällen kann es so zur eigentlich unnötigen Anwendung von breiter wirksamen und teureren Substanzen kommen. Auch Preisdiktate sind vorstellbar. Eine größere Unabhängigkeit von möglichen Problemen auf dem Weltmarkt ist heute mehr denn je angezeigt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Winfried Kern praktizierte als Internist und Infektiologe.
Er ist Vorstandsvorsitzender der Akademie für Infektionsmedizin, Mitglied in der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft und im Vorstand der Europäischen Gesellschaft für Klinische Mikrobiologie und Infektiologie. Bis September 2021 leitete er als Professor für Innere Medizin die Abteilung Infektiologie am Universitätsklinikum Freiburg.