Interview mit Dr. José Maria Castellano
„Die Evidenz ist so eindeutig zugunsten der Single-Pill-Therapie, dass ich zustimme: Jeder sollte sie erhalten.“
Veröffentlicht:Frage: Was sind die Kernbotschaften Ihres Vortrages für die Kollegen und Kolleginnen für die klinische Praxis?
Castellano: Ich habe die Ergebnisse der bereits beim ESC-Kongress diskutierten SECURE-Studie vorgestellt, der ersten randomisierten, kontrollierten Studie, welche die Wirksamkeit der Single-Pill-Therapie in der Sekundärprävention belegt. Wir haben in einer Hochrisikopopulation nicht nur eine 24-prozentige relative Risikoreduktion für den primären Endpunkt aus Myokardinfarkt, Schlaganfall, kardiovaskulärem Tod und Revaskularisierungen zeigen können, sondern auch eine 33-prozentige Risikoreduktion für Mortalität, was sehr beachtlich ist.
Da die Single Pill exakt die gleichen Substanzen enthielt wie die drei einzelnen Tabletten in der Kontrollgruppe, die zudem in 40 Prozent der Fälle eine höhere Statindosis erhielten, zeigt dies, dass die Compliance in der Real World sehr schlecht ist. Das ist wahrscheinlich der Haupt-Treiber für Reinfarkte und Schlaganfälle bei diesen Patienten. Ein anderes interessantes Ergebnis ist, dass die Kurven schon nach 2 bis 3 Wochen auseinander gingen, weil Patienten der Single-Pill-Therapie-Gruppe wahrscheinlich sehr compliant und damit sehr gut gegen schwere kardiovaskuläre Ereignisse (Major Adverse Cardiac Event = MACE) geschützt waren.
Ich denke, dass wir in der Kardiologie das Konzept der Single-Pill-Therapie bisher nicht genügend ernst genommen haben. Es ist schwer für uns, die Realität zu akzeptieren, dass mehr als 50 Prozent unserer Patienten bereits sechs Monate nach einem Myokardinfarkt unsere Indikation außer Acht lassen. Die Single Pill ist eine Option, um die Compliance zu optimieren. Wie wichtig das ist, zeigt die aktuelle Evidenz.
Frage: Wie kann diese Evidenz in den klinischen Alltag transferiert werden?
Castellano: Die Single-Pill-Therapie hatte einen schlechten Start. Vielleicht haben wir nicht genügend gut erklärt, was erreicht werden soll. Zu Beginn im Jahr 2003 sagten wir „Die Single Pill für alle über 55“. Da hat sich ein Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft zurückgezogen, da wir die medikamentöse Therapie 20 Jahren lang in Richtung personalisierte Medizin weiterentwickelt hatten. Es ist ziemlich paradox, wenn wir einerseits sagen „Gebt jedem die Single Pill“, andererseits die Therapie an das individuelle Risiko adaptieren, indem wir bei Bedarf eine zweite lipidsenkende oder antihypertensive Therapie als Add-on zusätzlich zur Basistherapie mit Single Pill geben. Ich denke, dass sich die Single Pill-Therapie aufgrund dieses vermeintlichen Paradoxons bisher nicht durchgesetzt hat.
Ein weiterer Grund ist wahrscheinlich, dass wir die massiven Auswirkungen der Non-Compliance nicht für möglich gehalten haben – ein Grund warum wir die SECURE-Studie durchgeführt haben. Denn es reicht nicht, zu sagen „Die Single Pill ist besser“. Alle Kardiologen brauchten eine Phase-3-Studie, die zeigt, um wie viel besser sie ist.
Frage: Ist es also eine wichtige Botschaft, dass Single-Pill-Therapie und individualisierte Therapie sich nicht ausschließen, weil die Substanzkombinationen und Dosierungen flexibel gewählt werden können?
Castellano: Das ist absolut richtig.
Frage: Macht es vor dem Hintergrund der aktuellen Evidenz zur Single Pill also Sinn, Bestandspatienten in der hausärztlichen Praxis systematisch hinsichtlich loser Kombinationen zu überprüfen und wann immer möglich lose Kombinationen durch Single Pills zu ersetzen?
Castellano: Ganz klar: Auf Basis dieser Studienergebnisse sollte jeder Patient, der diese drei Tabletten nimmt und keine unerwünschten Wirkungen und keine Kontraindikationen aufweist, auf eine Single-Pill-Therapie eingestellt werden. Vor einem Jahr hätten wir noch darüber diskutieren können, ob das die bessere Strategie ist oder nicht. Aber bei der jetzigen Evidenzlage sollte sich der Behandler bei Patienten, die nicht auf einer Single-Pill-Therapie sind, fragen „Warum lasse ich dem Patienten nicht die zusätzliche 24-prozentige Risikoreduktion im Vergleich zu einer Strategie aus drei einzelnen Tabletten zukommen?“.
Wenn dies ein neues Molekül statt einer Single Pill, die drei Tabletten umfasst, wäre, wären wir nicht zu halten und würden fordern, dass jeder dieses einnehmen sollte. Es sind aber dieselben alten Substanzen wie bisher und wir glauben nicht an die Bedeutung der Compliance.
Frage: Wie bewerten Sie den Kommentar von Professor Yussuf Ende letzten Jahres im Lancet, dass es an der Zeit ist, die Single-Pill-Therapie bei Patienten, die einer Kombinationstherapie bedürfen, breit einzusetzen, um jedes Jahr Millionen von Leben zu retten?
Castellano: Ich stimme absolut zu. Wir haben über 20 Jahre daran gearbeitet. Die allgemeine Skepsis sollte inzwischen verschwunden sein, weil endlich die harten Daten, die alle haben wollten, vorliegen. Die Evidenz ist so eindeutig zugunsten der Single-Pill-Therapie, dass ich zustimme. Jeder sollte sie erhalten. Es ist nicht die Frage, ob ich Atorvastatin oder Rosuvastatin bevorzuge. Die Realität ist, dass es Patienten, die eine personalisierte Therapie mit 6 oder 7 Tabletten erhalten, nicht gut geht.
Das Interview wurde geführt bei der 89. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V. (DGK) vom 12. - 15. April 2023 in Mannheim.
Das Interview wurde geführt bei der 89. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V. (DGK) vom 12. - 15. April 2023 in Mannheim.