Gesundheitswesen im Corona-Schock: eine erste Bilanz
Die COVID-19-Pandemie hat in Deutschland erhebliche medizinische und gesundheitliche Kollateralschäden hinterlassen. Ein erneuter Lockdown müsste wesentlich differenzierter erfolgen als im März und April. Furcht vor Ansteckung, soziale Isolation und Reservierung von Intensivkapazitäten in Kliniken haben zu dramatischen Fallzahlrückgängen zum Beispiel bei Herzinfarkten und Schlaganfällen sowie zu einer Stilllegung von DiseaseManagement-Programmen und jeglicher Krankheitsfrüherkennung geführt.
Veröffentlicht:„Eines ist ganz sicher: Die Qualität der Versorgung hat durch COVID-19 gelitten. Vor allem für die alten Menschen und chronisch Kranken, die sich als Risikopatienten nicht mehr in die Praxen getraut haben“, resümiert Dr. Berthold Dietsche, Allgemeinarzt in Freiburg. Vorsorge, Krankheitsfrüherkennung und DMP wurden über Nacht auf Eis gelegt. Stattdessen glühten die Telefone. Die schnelle Reaktion der Selbstverwaltung, die telefonische AU-Bescheinigung oder die Rezeptausstellung ohne persönlichen Kontakt zu ermöglichen sei „ein Segen“ gewesen. Aber Telefon und Telemedizin könnten nicht den persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt ersetzen, so Dietsche.
Was der Freiburger Hausarzt in den letzten Monaten in seiner Praxis erlebte, steht pars pro toto für die gesamte ambulante Medizin: ein exponentieller Fallzahlrückgang ab der zweiten Märzwoche.
Das geht aus dem Trendreport des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung hervor, der die Veränderung der Leistungsinanspruchnahme niedergelassener Ärzte nachzeichnet:
- Noch bis Mitte März registrierten Hausärzte Fallzahlzuwächse bis zu 11 Prozent im Vergleich zur entsprechenden Vorjahreswoche; in der letzten Märzwoche brach die Fallzahl um 39 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ein.
- Bei allen anderen Facharztgruppen wirkten das Infektionsgeschehen und der Lockdown früher und schärfer.
- Ein Minus von 64 Prozent verzeichneten Augenärzte in der letzten Märzwoche, bei Kinderärzten waren es 53 Prozent, in den internistischen Fachgebieten zwischen 40 und 54 Prozent.
Am stärksten gelitten haben Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen: Mammographie-Screening minus 82 Prozent Ende März, Hautkrebs-Screening minus 71 Prozent, die Kindergesundheitsuntersuchung J1 minus 55 Prozent.
Aber auch kurative diagnostische Leistungen wurden bis Ende März in einer Größenordnung von rund 50 Prozent zurückgefahren: Herzschrittmacherkontrolle minus 47 Prozent, Allgemeinlabor und Ultraschall minus 50 Prozent.
Weniger Notfälle
Innerhalb weniger Wochen hat die sich im Februar und März ausbreitende Pandemie offenbar auch den Maßstab der Bevölkerung dafür, was eine behandlungsbedürftige Krankheit ist, drastisch verschoben. Ablesen lässt sich das an der Entwicklung der Zahl der ambulant versorgten Notfälle: In den ersten Märztagen war es noch ein kleines Plus von drei Prozent, in der letzten Märzwoche erreichte der Rückgang 29 Prozent. Die Zahl der Hausbesuche von Ärzten sank um bis zu 33 Prozent, auch die Versorgung von Pflegeheimen wurde zurückgefahren.
Mindestens ebenso bedenklich ist der Rückgang der Behandlungszahlen von an Krebs erkrankten Menschen: In der ambulanten onkologischen Versorgung sank die Fallzahl um 39 Prozent in der letzten Märzwoche.
Zwar hatten sich die Wartezimmer im Lauf des März geleert – beschäftigungslos waren die Ärzte keineswegs. Zunehmend wurde der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt durchs Telefon ersetzt: Die Zahl der ausschließlich telefonischen Beratungen (Bereitschaftspauschale 01435) stieg bis zur vierten Märzwoche um 251 Prozent im Vergleich zur entsprechenden Vorjahreswoche. Der Zuwachs an Wiederholungsrezepten ohne Arzt-Patienten-Kontakt erreichte bereits Mitte März 37 Prozent.
Medizin im Lockdown
- 16. März: Verschiebung aller planbaren Krankenhausaufnahmen und Operationen, um (Intensiv-)Kapazitäten für Covid-19-Patienten freizuhalten; Tagespauschale von 560 Euro für freigehaltene Covid-19- Betten.
- 25. März: Aussetzung von Einladungen zum Mammografie-Screening.
- 27. März: Aussetzung von Kontrolluntersuchungen und Schulungen von DMPPatienten.
- Keine Sanktionierung bei Unterschreiten des Versorgungsauftrags, zum Beispiel durch Reduzierung von Sprechzeiten.
- Medizinische Fachgesellschaften veröffentlichen Handlungsempfehlungen zur Modifikation von Therapien unter Pandemiebedingungen; zum Beispiel die Onkopedia-Leitlinie für die Versorgung von Krebspatienten.
Die Videosprechstunde, Anfang März noch ohne jede Bedeutung, wurde in der letzten Märzwoche 82.000mal abgerechnet. Relativ ist das ein Zuwachs von gigantischen 550.000 Prozent im Vergleich zur entsprechenden Vorjahreswoche. Doch die absolute Zahl zeige die immer noch vergleichsweise geringe Bedeutung dieser technischen Option zur Kommunikation zwischen Arzt und Patient, so Berthold Dietsche. Er hält es für fragwürdig, Diagnosen per Bildschirmkontakt zu stellen. Und älteren Menschen sei diese Technik kaum zugänglich.
Option Telemedizin?
Den – noch begrenzten – Nutzen der Telemedizin belegt auch eine andere Leistung, die Kontrolle von Herzschrittmacher, Kardioverter, Defibrillator oder CRT: Die konventionellen Kontrollen waren im März um bis zu 40 Prozent rückläufig, die Zahl der telemedizinischen Kontrollen stieg um bis zu 76 Prozent. Ein Blick auf die absoluten Fallzahlen zeigt allerdings, dass der Rückgang der konventionellen Kontrolle um bis zu 8000 pro Woche nicht annähernd durch den Zuwachs der telemedizinischen Überprüfungen von wöchentlich zwischen 280 und 800 ersetzt werden konnte.
Während also die ambulante Regelversorgung – insbesondere auch für alte Menschen – teils drastisch zurückgefahren wurde, standen die niedergelassenen Ärzte – anders als in anderen europäischen Ländern – bei der Versorgung von Covid-19-Patienten an vorderster Front. 85 Prozent aller Infektionen wurden von Vertragsärzten behandelt, nur elf Prozent in Kliniken.
„Wir haben den Schutzwall gebildet, der unser Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt hat“, resümierte der KBV-Vorsitzende Dr. Andreas Gassen Anfang Juni vor der Vertreterversammlung. Er mahnte eindringlich die Rückkehr zur Regelversorgung an: „Die teils drastischen Rückgänge der Patientenzahlen sind alarmierend. Ein verschleppter Herzinfarkt oder ein zu spät entdeckter Tumor sind in der Regel sehr viel folgenreicher als eine Corona-Infektion.“
Die anfängliche Schockstarre dürfe kein Dauerzustand sein, mahnt auch der Präsident des Verbandes forschender Pharma-Unternehmen (vfa), Han Steutel.
Deutschland sei auch deshalb gut durch die Krise gekommen, weil der Gesundheitszustand der Bevölkerung trotz höheren Altersdurchschnitts im internationalen Vergleich recht hoch war. „Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen, denn sonst käme es zu einer Situation, die ich das Corona-Paradoxon nennen würde – das was uns zu Beginn der Krise geholfen hat, wird in der Krise verspielt“, so Steutel.
Arzneimittel auf Vorrat
Der Einbruch der Fallzahlen ist allerdings nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtbild der Versorgung. Manches deutet darauf hin, dass die Versorgung insbesondere chronisch Kranker auch ohne direkten Arzt-Patienten-Kontakt kontinuierlich gewährleistet war. Ablesen lässt sich das aus Daten des Marktforschungsunternehmens IQVIA anhand der Zahl in Apotheken abgegebener Arzneimittel, die typischerweise bei chronischen Krankheiten eingesetzt werden.
Danach hat es vor allem bei Arzneimitteln, die bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bei Diabetes eingesetzt werden, im März einen regelrechten Bevorratungsschub gegeben: Die Zahl abgegebener Packungen mit Wirkstoffen zur Regulierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems ebenso wie bei Lipidsenkern nahm um jeweils rund 38 Prozent zu, bei Diuretika um knapp 29 Prozent, bei Antidiabetika um knapp 31 Prozent.
Die Mengenzuwächse bei Antineoplastika lagen mit Ausnahme des Mai (4,2 Prozent) in allen Monaten im niedrigeren zweistelligen Bereich. Bei cytostatischen Hormonen wurden nur in den Monaten April und Mai leichte Rückgänge von zwei und drei Prozent registriert.
Schockstarre in Kliniken
Eine regelrechte Disruption fand dagegen in der stationären Versorgung statt, wie aus dem Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zur Entwicklung der Krankenhausfallzahlen während des Lockdowns im März und April hervorgeht. Bei der Realisierung der politischen Vorgabe, alle elektiven Interventionen zu unterlassen und so Intensivkapazitäten für die Behandlung von Patienten mit schweren Coronainfektionen freizuhalten, wurde weit übers Ziel hinausgeschossen – auf Kosten der Notfallversorgung in anderen Krankheitsfällen:
- Selbst in der Zeit höchster Neuinfektionen im März und in der ersten Aprilhälfte (bis zu rund 5500 Fälle pro Tag) überstieg die Zahl freier Intensivbetten die der intensivbehandelten Corona-Patienten um mehr als das Vierfache.
- Die Zahl der Krankenhausfälle von AOK-Versicherten brach im April um 41 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat ein.
- Am stärksten waren die Fallzahlrückgänge bei Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes mit minus 65 Prozent, gefolgt von Augenerkrankungen mit 63 Prozent.
- Auffällig und besorgniserregend ist aber der Fallzahlrückgang bei lebensbedrohlichen und dringlich zu behandelnden Erkrankungen: Herzinfarkt minus 31 Prozent, chronische ischämische Herzkrankheit minus 50 Prozent, Schlaganfall minus 18 Prozent und zerebrale transitorische Ischämie (TIA) mit 37 Prozent.
Als mögliche Ursachen nennen die Autoren des Reports regulatorische Vorgaben, aber eventuell auch ein Lockdown-bedingtes geringeres Krankheitsgeschehen, vor allem aber die Furcht der Patienten vor Infektionen im Krankenhaus.
Auch die Isolation älterer Menschen und die verminderte Chance zur Wahrnehmung gefährlicher Symptome durch Dritte kann ein Grund sein. Notwendig sei nun eine weitere Mortalitäts- und Morbiditätsanalyse. Und gezielte Aufklärung der Bevölkerung zur Risikowahrnehmung unter Pandemiebedingungen.
Das sieht vfa-Chef Steutel ähnlich: „Man steigt nie zweimal in denselben Fluss! Wir alle haben in der Krise gelernt. Künftig brauchen wir gestaffelte Schutzkonzepte in Praxen, Pflegeeinrichtungen und Kliniken, damit die Behandlung chronisch Kranker nicht unterbrochen und die Notfall- und Akutversorgung nicht eingeschränkt werden muss.“
Höhere Akzeptanz fürs Impfen
Eines hat die Pandemie aber offenbar auch bewirkt: eine höhere Akzeptanz von Impfungen in der Bevölkerung. Ablesen lässt sich dies an der um bis zu fast 400 Prozent gestiegenen Nutzung der Influenza- und Pneumokokken-Schutzimpfung im März. Steutel, der damit rechnet, dass Anfang nächsten Jahres die ersten Impfstoffe gegen das Corona-Virus zur Verfügung stehen und dann zunächst medizinisches Personal und Risikogruppen geimpft werden, ist überzeugt, dass die meisten Menschen sukzessive die Impfung nutzen werden. Voraussetzung: „Alle müssen sich auf die uneingeschränkte Geltung der hohen europäischen Schutzstandards bei der Zulassung verlassen können.“
Hausarzt Dr. Dietsche ist sich sicher, dass sich die Impfkultur verbessern wird. Schon jetzt verzeichne er rege Nachfrage seiner Patienten bei der Influenza-Impfung. Er hofft, dass mehr seiner Kollegen seinem Beispiel folgen werden und ein Recall-System einführen. Das sei leider noch nicht Standard.