Berliner Gesundheitspreis 2023
Hilfe für alle, die aus dem Raster fallen
Mehrere Hunderttausend Menschen sind in Deutschland nicht krankenversichert. In zahlreichen Städten kooperieren deshalb Ärzte und Sozialarbeiter, um Menschen in Not zu versorgen. Vier besondere Initiativen wurden nun ausgezeichnet.
Veröffentlicht:Er habe starke Schmerzen, sagt der ältere Herr, als er den Behandlungsbus in der Münchner Innenstadt erreicht. Ursprünglich stammt er aus Spanien. Was ihn in die bayerische Landeshauptstadt verschlagen hat? Unklar. Der Mann hat weder Geld noch Papiere. Die Ärztin vom Team „open.med“ vermutet zunächst, dass er an einer Harnwegsinfektion leidet, gibt ihm Schmerzmittel und Antibiotika.
Doch weil sich sein Zustand nicht bessert, überweist sie ihn schließlich in eine Klinik, wo Spezialisten einen Blasentumor diagnostizieren. Eine Operation sei dringend nötig, aber ohne Krankenversicherung unmöglich. Also kontaktieren die Helfer das spanische Konsulat, sorgen dafür, dass der Patient einen neuen Reisepass bekommt, beantragen beim Sozialamt Sozialhilfe und Krankenversicherungsschutz. Anschließend nimmt ihn das Krankenhaus stationär auf, der Mann kann operiert werden.
Versorgt wird auch im Bus
Seit 2006 kümmert sich „open.med“ um Menschen ohne Krankenversicherung. In einer festen Anlaufstelle und in einem mobilen Bus behandeln die Mediziner kostenlos Menschen in Not. Initiiert hat das Projekt die Organisation „Ärzte der Welt“. Ihren Berechnungen zufolge, leben in Deutschland mehrere Hunderttausend Menschen mit fehlendem Krankenversicherungsschutz – darunter Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus, arbeitslose EU-Bürger aber auch deutsche Staatsangehörige, die ihre Krankenkassenbeiträge nicht mehr bezahlen können.
Projekt „open.med“
Arztmobil bringt Hilfe zu Obdachlosen
Medizinische Versorgung ist nur ein Teil der Arbeit von „open.med“. Die Mitarbeiter verhandeln für ihre Patienten mit Ämtern, informieren Sozialarbeiter, versuchen Betroffenen einen Weg zurück ins Krankenversicherungssystem zu ebnen.
Hoffnung auf Krankenhausreform
Für ihr Engagement verliehen der AOK-Bundesverband und die Berliner Ärztekammer am vergangenen Mittwoch „open.med“ den Berliner Gesundheitspreis 2023. Damit war die Initiative einer von vier Preisträgern der mit insgesamt 50.000 Euro dotierten Auszeichnung. Motto in diesem Jahr: „Gesundheit gerecht gestalten“. Gesundheit sei „leider viel zu oft auch eine soziale Frage“, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Sabine Dittmar, bei der Festveranstaltung.
Dittmar hofft, dass die geplante Krankenhausreform dazu beiträgt, dass Menschen unabhängig von ihrer Gesundheitskompetenz die richtige Versorgung bekämen. „Mich macht es als Medizinerin verrückt, dass immer noch 50 Prozent unserer onkologischen Patientinnen und Patienten in nicht zertifizierten Einrichtungen behandelt werden“, erklärte sie und forderte, „dass Leistungen, die nicht evidenzbasierten Qualitätsstandards entsprechen“, auch nicht angeboten werden.
Berliner Gesundheitspreis 2023
Sozialberatung in der Arztpraxis
Berlins Ärztekammerpräsident Dr. Peter Bobbert kritisierte scharf, dass es nicht für alle Kranken normal sei, einen Arzt aufzusuchen. „Aus meiner Sicht ist das ein Skandal, der nicht zu tolerieren ist.“ Ärztliche Versorgung sei ein Menschenrecht, unabhängig vom Status.
Viele „schwierige Fälle“
Bobbert unterstrich die Bedeutung von „unterstützenden Strukturen außerhalb des etablierten Gesundheitswesens“, solange adäquate Versorgung für alle noch kein Automatismus sei. Der stellvertretende Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Jens Martin Hoyer, sagte: Es gelte, „soziale Problemlagen zu erkennen und den Menschen in ihren Lebenswelten passgenaue Angebote zu unterbreiten“. Genau diesem Prinzip folge „open.med“.
Während der Preisverleihung erzählte die Medizinerin Dr. Marianne Stix von ihren Erfahrungen: „Wir merken in der letzten Zeit, dass die Patienten mehr und die Fälle schwieriger werden.“ Ein Grund: Viele Menschen kämen erst dann, wenn ihre Krankheiten schon in einem fortgeschrittenen Stadium seien. Haben es die Menschen dann zu „open.med“ geschafft, tauchten neue Probleme auf. „Wenn jemand kommt, der akut versorgt werden muss, beispielsweise mit einem entgleisten Diabetes mellitus, telefoniere ich oft verzweifelt mit einer Klinik nach der anderen und finde dennoch kein Krankenhaus, das meinen Patienten aufnimmt.“ Ihre Forderungen an die Politik: Einen einfacheren Zugang zur Gesundheitsversorgung, damit Krankheiten früher behandelt werden.
Von den 20.000 Euro Preisgeld, werde man ein neues Ultraschallgerät für schwangere Patientinnen kaufen, außerdem eine Zusatzbatterie für die Stromversorgung der medizinischen Geräte im Behandlungsbus, sagte Projektreferentin Annemarie Weber, die bei „open.med“ Sprechstunden koordiniert und Sozialberatungen anbietet.
Preis für mehr Chancengleichheit
AOK und Ärztekammer schreiben den bundesweiten „Berliner Gesundheitspreis“ seit 1995 alle zwei Jahre aus. Der Hintergrund: Noch immer sind Gesundheitschancen in Deutschland ungleich verteilt. Zu den Ursachen gehören unter anderem geringe formale Bildung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, relative Einkommensarmut sowie die Wohnsituation in sozial benachteiligten Regionen oder Stadtteilen. Studien belegen, dass Menschen in schwierigen Lebensumständen auch gesundheitlich stärker belastet sind. Sie sind häufiger und länger krank, leben ungesünder und finden sich weniger gut im Gesundheitssystem zurecht.
Der Berliner Gesundheitspreis soll dazu beitragen, medizinische und soziale Leuchtturmprojekte vorzustellen, um zu zeigen, dass es möglich ist, allen Menschen das Recht auf gleiche Gesundheitschancen zu ermöglichen.
Weitere Infos und Filme zu allen Preisträgern des diesjährigen Berliner Gesundheitspreises gibt es unter www.berliner-gesundheitspreis.de