Rechtzeitig in die Reha
KI erkennt Muster im Krankheitsverlauf
Rückenschmerzen gehören zu den häufigstenGründen für Arbeitsunfähigkeit. AOK Bayern und DRV- Nordbayern wollen helfen, die Zahl der Menschen, die krankheitsbedingt langzeitarbeitslos sind oder eine Erwerbsminderungsrente beantragen müssen, zu senken.
Veröffentlicht:Etwa ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland leidet nach Angaben des Statistischen Bundesamtes unter Rückenschmerzen. Trotz der fortdauernden Schmerzen nutzen viele der Betroffenen selten gesundheitsfördernde Angebote und riskieren, dass sich die Beschwerden chronifizieren. Die AOK Bayern und die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Nordbayern werten mithilfe von Künstlicher Intelligenz vorliegende Versichertendaten aus und schreiben proaktiv jene Versicherte an, die von einer medizinischen Rehabilitation besonders profitieren würden.
Die Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems zählen zu den häufigsten Diagnosen für eine Arbeitsunfähigkeit. Laut DRV-Zahlen von 2022 gehen etwa 40 Prozent der rund 922.000 medizinischen Reha-Leistungen auf orthopädische und muskuloskelettale Beschwerden zurück und diese sind häufig mit Rückenschmerzen verbunden. Das gemeinsame Ziel von AOK Bayern und DRV Nordbayern ist es, Versicherte mit chronischen Rückenbeschwerden frühzeitig anzusprechen. Denn: „Je länger sich ein chronisches Krankheitsgeschehen entwickelt, desto größer ist das Risiko späterer Langzeitarbeitslosigkeit und Erwerbsminderung“, sagt Dr. med. Harald Berger, Leiter der Abteilung Gesundheit und Teilhabe bei der DRV Nordbayern.
KI erkennt die „richtigen“ Patienten
Vielen Betroffenen dürfte eine Reha helfen und zudem das individuelle Risiko senken, gesundheitsbedingt eine Erwerbsminderungsrente zu beantragen. Die Crux beim Reha-Zugang jedoch ist, dass diese nicht einfach verordnet werden kann. Der Patient selbst muss aktiv werden, die Reha beantragen und zudem den Befundbericht eines niedergelassenen Mediziners einholen. Nicht alle Versicherten aber sind darüber ausreichend informiert oder trauen es sich zu, eigenständig einen Reha-Antrag auf den Weg zu bringen. Oftmals fehle es auch an Informationen oder es bestehe ein falsches Bild, was medizinische Reha-Maßnahmen bewirken könnten, so Berger.
Für das Projekt „Zugangsoptimierte Arbeitsfähigkeitsorientierte Rehabilitation“ (ZAR) wurden dafür die Routinedaten der Krankenkasse systematisch ausgewertet. Die künstliche Intelligenz hilft dabei, jene Versicherten zu finden, denen eine medizinische Rehabilitation besonders guttun würde. Das rehapro-Projekt wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert, die DRV Bayern Nord hat die Federführung und die Arbeitsgruppe Rehabilitationswissenschaften im Zentrum für Psychische Gesundheit des Universitätsklinikums Würzburg evaluiert das Vorhaben. Den Einsatz der Künstlichen Intelligenz haben Dr. Rainer Kaluscha und sein Team vom Institut für Rehabilitationsmedizinische Forschung an der Universität Ulm (IFR Ulm) entwickelt. Basis der Forschung bilden Krankenkassendaten – speziell jene von Versicherten zwischen 18 und 65 Jahren, die bereits eine Rehabilitation aufgrund von Rückenschmerzen durchlaufen haben.
Für Rainer Kaluscha sind es die „historischen Reha-Fälle“. Der Medizin-Informatiker interessiert sich insbesondere für die Zeit zwischen dem 18. und dem 6. Monat vor Rehabilitationsbeginn: Ist hier bereits Reha-Bedarf erkennbar? Welche Diagnosen wurden gestellt? Wie oft wurde ein Arzt aufgesucht? Gab es stationäre Aufenthalte? Welche Medikamente, welche Heil- und Hilfsmittel wurden verordnet? Systematisch hat er darin jene Merkmale herausgefiltert, die für reha-bedürftige Patienten mit Rückenschmerzen typisch sind, und die Ergebnisse mit den Projektpartnern geteilt. „Wiederholte Arbeitsunfähigkeiten wegen der gleichen Diagnose sind beispielsweise ein Indiz dafür, dass eine Reha hilfreich sein könnte“, ergänzt Projektleiter Harald Berger.
KI braucht Daten für das Training
Nach und nach wurde das typische Muster in den Krankheitsverläufen erkennbar, die den Bedarf an einer Rehabilitation nahelegen. Das bewertete Material der „historischen Reha-Fälle“ wurde zum Trainingsmaterial für die KI. Damit „gefüttert“ kann sie das individuelle Krankheitsgeschehen bewerten und jene Rückenschmerzpatienten herausfiltern, denen eine Rehabilitation möglicherweise nutzen würde.
Um sicher zu gehen, dass die ausgewählten Parameter relevant und die generierten KI-Empfehlungen plausibel sind, wurden die Ergebnisse mit Behandlungsverläufen von zufällig ausgewählten Versicherten sowie mit Versicherten mit chronischen Rückenschmerzen ohne Rehabilitation verglichen und medizinischen Experten vorgelegt. Zudem wurden verschiedene KI-Trainingsmethoden getestet und schließlich der sogenannte „Entscheidungsbaum“ („decision tree“) für weitere Anwendungen favorisiert.
„Die Qualität der Vorhersage sowie die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen sind in der Medizin die wichtigsten Kriterien für die Bewertung des KI-Verfahrens“, sagt Experte Kaluscha. Der so entwickelte KI-Entscheidungsbaum wurde anschließend auf die aktuellen Routinedaten der AOK angewendet. Gesundheitlich belastete und dadurch potenziell in ihrer Erwerbsfähigkeit gefährdete Patienten wurden so herausgefunden. Die Kundenberaterinnen und -berater haben diese Versicherten angeschrieben und ihnen eine medizinische Reha-Leistung gezielt angeboten. Aus Gründen des Datenschutzes erfolge die Ansprache der Versicherten ausschließlich über die AOK, betont Berger. Da die DRV auf diesem Weg eine Reha datenbasiert vorschlage, werde der bislang obligatorische Befundbericht des Hausarztes nicht mehr benötigt.