Kooperation | In Kooperation mit: AOK-Bundesverband

Literalität

Lesekompetenz stärkt die Gesundheit

In Deutschland haben 6,2 Millionen Menschen große Lücken in der Lese- und Schreibfähigkeit. Ihnen den Zugang zu Gesundheitsinformationen zu erleichtern, erfordert eine ressortübergreifende Zusammenarbeit.

Von Kai Kolpatzik Veröffentlicht:
Lesetraining. Wer Texte versteht, kann Informationen zur Gesundheit finden und bewerten.

Lesetraining. Wer Texte versteht, kann Informationen zur Gesundheit finden und bewerten.

© sabine hürdler / stock.adobe.com

Berlin. Im Land der Dichter und Denker ist es um die Lese- und Schreibfähigkeiten in nennenswerten Teilen der Bevölkerung nicht zum Besten bestellt: So ergab die erste LEO-Studie (Level-One-Studie) der Fakultät für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg im Jahr 2011, dass in Deutschland 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben von Wörtern, Sätzen und kurzen Texten haben.

Das hat gravierende Folgen auch für die Gesundheit: Wer selbst kurze Texte nicht versteht, scheitert an schriftlichen Informationen beispielsweise über Krankheiten, Arzneimittel oder andere medizinische Behandlungsmöglichkeiten.

Auch bei der Nutzung digitaler Medien, die helfen könnten, sich im Gesundheitssystem besser zurechtzufinden, stehen Menschen mit mangelnden Lese- und Schreibfähigkeiten vor großen Hürden.

Gesundheitskompetenz erhoben

Das belegte Ende 2011 der Europäische Health Literacy Survey (HLS-EU) zur Gesundheitskompetenz der Menschen in acht europäischen Ländern. In Deutschland – die Daten wurden ausschließlich in Nordrhein-Westfalen erhoben – hat demnach sogar knapp jeder zweite Erwachsene Probleme mit dem Finden, Verstehen, Bewerten und Umsetzen von Gesundheitsinformationen.

Die erste bundesweit repräsentative Untersuchung, initiiert und umgesetzt vom AOK-Bundesverband und dem Wissenschaftlichen Institut der AOK, bestätigte die Ergebnisse des HLS-EU: 2014 hatten demnach mehr als 59 Prozent der gesetzlich Versicherten in Deutschland eine eingeschränkte bis unzureichende Gesundheitskompetenz.

Nationale Dekade zur Alphabetisierung und Grundbildung

Um die großen Lücken in der Lese- und Schreibfähigkeit (Literalität) der erwachsenen Bevölkerung zu schließen, rief die Bundesregierung 2016 eine Nationale Dekade zur Alphabetisierung und Grundbildung aus (Alphadekade).

Sie ist mit 18 Millionen Euro jährlich ausgestattet und wurde durch den Koalitionsvertrag gestärkt. Die Ergebnisse der im Mai 2019 veröffentlichten Folgeuntersuchung der LEO-Grundbildungsstudie belegten erste Erfolge. Demnach belief sich im Jahr 2018 die Zahl der Menschen mit geringer Literalität auf 6,2 Millionen – ist also gegenüber 2011 um 1,3 Millionen gesunken.

Das heißt allerdings, dass immer noch mehr als zwölf Prozent der deutsch sprechenden 18- bis 64-Jährigen nicht in der Lage sind, schriftliche Informationen zu verstehen, die länger als ein Satz sind.

Das Risiko, gesundheitsrelevante Informationen nicht adäquat finden, verstehen, beurteilen und anwenden zu können, ist für Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, fast doppelt so hoch wie für Menschen mit guter Literalität.

Mit Blick auf Reichweite, Relevanz und Dringlichkeit der skizzierten Problemlagen hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung von Dezember 2017 bis Oktober 2019 das Sondierungsvorhaben „HEAL – Health Literacy im Kontext von Alphabetisierung und Grundbildung“ gefördert.

Austausch von über 70 Experten

Initiiert und umgesetzt haben es die Stiftung Lesen und der AOK-Bundesverband im Rahmen der Alphadekade. Zwei Fachtagungen zu Health Literacy und Food Literacy im Mai und November 2018 brachten mehr als 70 Expertinnen und Experten aus der Bundes- und Landespolitik sowie dem Gesundheitswesen und den Bereichen Alphabetisierung und Grundbildung zusammen.

Drei Gruppendiskussionen ergänzten diese Expertenrunden Anfang 2019 durch die Perspektive gering literalisierter Erwachsener und von Menschen, deren individuelle Problemlagen, wie beispielsweise eine eigene chronische Erkrankung oder die Betreuung eines erkrankten Angehörigen besondere Anforderungen an Ernährungs- und Gesundheitskompetenz stellen.

Literacy-Begriff ausweiten

Die Ergebnisse des HEAL-Vorhabens legen eine systematische Verknüpfung von Ansätzen und Maßnahmen zur Steigerung der gesundheitlichen Grundbildung und zur Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenzen von Erwachsenen auf allen Ebenen nahe.

Der zu erwartende Nutzen für Menschen mit Grundbildungsbedarf ist deutlich: Wem Lesen und Schreiben leichtfällt, wird sich auch zu Gesundheitsthemen angemessen informieren und entsprechend handeln können. Wer Grundbildungsbedarf im Lesen und Schreiben hat, findet mit Gesundheits- und Ernährungsfragen unmittelbare Anwendungsgebiete und Lernanreize. Die Zielgruppen profitieren von einer Verknüpfung in beiderlei Hinsicht.

Die Verknüpfung im operativen Bereich der Grundbildung muss auf politischer und strategischer Ebene verankert sein. Analog dem Ansatz der Weltgesundheitsorganisation von „Health in all Policies“ muss der Grundsatz „Literacy in all Policies“ gelten. Er umfasst sowohl Lese- und Schreibkompetenzen als auch die lebensweltliche Relevanz und Anwendung literaler Fähigkeiten, so zum Beispiel Financial Literacy, Digital Literacy und in diesem Zusammenhang vor allem Health Literacy einschließlich Food Literacy, also Gesundheits- und Ernährungskompetenz.

Ein in diesem Sinne umfassender Literacy-Begriff impliziert, dass die Förderung von (Health) Literacy nicht auf die Zuständigkeit von Bildungs- beziehungsweise Gesundheitsministerien beschränkt werden kann, sondern eine Vielzahl politischer Ressorts in die Verantwortung nimmt, darunter auf Bundesebene die Ministerien für Ernährung und Landwirtschaft, für Justiz und Verbraucherschutz, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Umwelt, Verkehr sowie für Arbeit und Soziales.

Handlungsempfehlungen abgeleitet

Aus den beiden Fachtagungen und den Gruppendiskussionen mit den Betroffenen sind nach dem Ansatz der Literacy in all Policies Handlungsempfehlungen abgeleitet worden. Ziel ist es, zum einen die Verhältnisse so zu gestalten, dass Menschen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen niedrigschwellig Zugang zu Inhalten und Beratungsangeboten erhalten. Zum anderen müssen Menschen motiviert werden, ihre eigenen Kompetenzen zu verbessern.

Daraus ergeben sich Aufgaben in vier Bereichen:

  • Vernetzung von Akteuren (beispielsweise die partnerschaftliche Planung und Umsetzung von Grundbildungsangeboten durch Träger und Anbieter aus Gesundheitsförderung und Alphabetisierung)
  • Gestaltung von Rahmenbedingungen (z.B. Entwicklung laienverständlicher Darstellungen auf Beipackzetteln und anderen medizinisch relevanten, bisher textbasierten Materialien)
  • Erreichung und Ansprache von Zielgruppen (z.B. die Entwicklung von Screening-Instrumenten zur leichteren Identifikation von Menschen mit geringer Literalität für unterschiedliche Settings und Zielgruppen in gesundheitsrelevanten Bereichen)
  • Einbezug von Chancen und Implikationen der Digitalisierung in allen Handlungsfeldern (dazu gehört, am Beispiel des geplanten Nationalen Gesundheitsportals, die Belange der Menschen mit geringer Literalität zu berücksichtigen).

Diese nach dem Literacy in all Policies-Ansatz hergeleiteten Aufgaben lassen sich in Einzelvorhaben, aber auch systematisch im Rahmen eines oder mehrerer Förderschwerpunkte aufgreifen – damit künftig mehr Menschen einen Nutzen aus dem umfangreichen Gesundheitswissen ziehen können.

Dr. med. Kai Kolpatzik ist Leiter der Präventionsabteilung im AOK-Bundesverband.

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