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Interview zum WIdO-Fehlzeiten-Report 2023

Oft kommt die Fürsorge für die Beschäftigten zu kurz

Die Arbeitswelt befindet sich im Wandel. Warum gerade jetzt ein Umdenken in der Führungskultur und mehr betriebliches Gesundheitsmanagement wichtig sind, erläutert der Soziologe Bernhard Badura.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
Psychische Erkrankungen führten laut WIdO-Fehlzeiten-Report 2023 im vergangenen Jahr im Schnitt zu AU-Zeiten von 29,6 Tagen je Fall, bei Atemwegserkrankungen waren es im Schnitt 7,1 Tage pro Fall.

Psychische Erkrankungen führten laut WIdO-Fehlzeiten-Report 2023 im vergangenen Jahr im Schnitt zu AU-Zeiten von 29,6 Tagen je Fall, bei Atemwegserkrankungen waren es im Schnitt 7,1 Tage pro Fall.

© Bernd_Leitner / stock.adobe.com

Herr Badura, die Zahl der psychisch bedingten Krankmeldungen und die Dauer der Fehltage steigen seit Jahren. Insbesondere Menschen, die viel mit anderen, hilfsbedürftigen Menschen zu tun haben, sind gefährdet. Woran liegt das?

Die Beschäftigten in der Gesundheitsversorgung, in Bildung und Erziehung erfahren zu wenig gesellschaftliche Wertschätzung. In unserer Gesellschaft dominiert ein starker Glaube an die positive Kraft der Technik. Die Folge ist, dass fürsorgende Tätigkeiten eher abgewertet werden und technische Berufe eher ein hohes Ansehen genießen.

Bernhard Badura ist Soziologe, ehemaliger Professor der Universität Bielefeld und Mitherausgeber des WIdO-Fehlzeiten-Reports 2023.

Bernhard Badura ist Soziologe, ehemaliger Professor der Universität Bielefeld und Mitherausgeber des WIdO-Fehlzeiten-Reports 2023.

© privat

Aber auch in der öffentlichen Verwaltung ist die Zahl der Betroffenen hoch. Was ist da ihre Erklärung?

Die Führungskultur in der Bürokratie ist oft völlig veraltet. Das passt nicht in die moderne Zeit mit vielen hochqualifizierten Beschäftigten. In den Verwaltungen werden vor allem jene belohnt, die sich in die Hierarchie einfügen und sich loyal verhalten. Wer immer wieder erlebt, dass eine andere Meinung und kreatives Mitdenken nicht gewünscht sind, zieht sich zurück und macht allenfalls noch Dienst nach Vorschrift. Es sind die systemischen Kräfte, die wirken.

Wie meinen Sie das?

Menschen wollen grundsätzlich ihren Beitrag leisten, sie wollen sich einbringen. Es gehört sozusagen zur menschlichen Natur. Die Beschäftigten wollen sich zudem mit dem, was sie tun, identifizieren. Die Frage ist also: Ist das Unternehmen, die Abteilung so organisiert, dass ein Gefühl der Sinnhaftigkeit bei den Beschäftigten auch entstehen kann. Ein ,Burn-out‘, das Ausbrennen, die Erschöpfung hat oftmals eine Sinnkrise als Ursache.

Ist es nicht auch eine Frage der jeweiligen Persönlichkeit?

Als Soziologe sage ich, die Situation formt den Menschen‘. In vielen Verwaltungen gibt es nach wie vor steile Hierarchien. Starre Regeln und juristisches Denken bestimmen das Miteinander. Es dürfen keine Fehler passieren und so wird auch kein Risiko eingegangen, es wird nichts ausprobiert. Wenn eine Verwaltung ausschließlich Routineaufgaben erledigen muss, kann dies noch gut laufen. Im Sozialen aber, im Bildungsbereich sind die Aufgaben sehr komplex geworden. Da müssen die Beschäftigten vermehrt zusammenarbeiten, kreativ werden, neue Lösungen finden, etwas ausprobieren.

Wie lässt sich das ändern?

Es kommt auf die Führungskräfte an. Sie müssen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anregen, inspirieren, gemeinsame Werte leben und ihnen immer wieder ein Feedback geben. Denn unklare Ziele, mangelhafte Transparenz und wenig Beteiligung beeinträchtigen das Sinnerleben des Einzelnen. Beschäftigte entwickeln dann Symptome psychophysischer Erschöpfung. Wer sich fortlaufend kontrolliert und bewertet fühlt, kann Angstgefühle entwickeln und scheut auch Risiken. Auch Passivität oder Unlust sind erlernte Verhaltensweisen. Wer das als Chef, als Chefin erlebt, sollte den eigenen Führungsstil hinterfragen.

Das erhöht den Druck auf diese Positionen. Müssen sich Führungskräfte nun noch mehr anstrengen?

Die heutige Spanne an Führungsaufgaben ist enorm breit. Die Fürsorge um die Beschäftigten kommt dann schnell zu kurz. Wer sich als Chef, als Chefin überfordert fühlt, ist leichter irritierbar, wird schneller ungeduldig. Auch ein ausgeprägter Perfektionismus verhindert gute Führung. Führungskräfte sollten sehr viel energischer als bisher dazu befähigt werden, bei sich selbst und ihren Mitarbeitenden zu erkennen, was mental gesund hält, was krank macht und wann und wo die entsprechende Expertise zu finden ist und in Anspruch genommen werden sollte. Und sie sollten dazu befähigt werden, Mitarbeitende zu binden, statt sie zu kontrollieren.

Die Führungskräfte allein werden es nicht schaffen.

Das stimmt. Die gesamte Kultur eines Unternehmens muss sich ändern. Führungskräfte und Beschäftigte müssen gleichermaßen umlernen. Eine gelebte Vertrauenskultur ist eine der Grundbedingungen für Bindung und gelingende Kooperation. Hier braucht es ganz konkrete Maßnahmen zur Schulung der Führungskräfte, die es zum Teil schon gibt, die teilweise aber auch noch entwickelt werden müssen.

Wir befinden uns hier in einem permanenten Lernprozess, der durch Betriebliches Gesundheitsmanagement begleitet werden sollte.

Im Zuge der Corona-Pandemie hat sich die Arbeitswelt deutlich verändert. Viele Beschäftigte arbeiten inzwischen von zu Hause aus. Wie hat sich das Gefüge in einem Unternehmen dadurch verändert?

Homeoffice ist an sich eine gute Sache, aber nicht als Dauerzustand und nicht ohne klare Regeln. Das Sozialkapital des Unternehmens darf nicht darunter leiden. Beschäftigte freuen sich darüber, dass sie so ihre Arbeit ihren Bedürfnissen entsprechend einteilen können und sie mehr Handlungsspielraum haben. Die im Fehlzeiten-Report 2023 vorgestellten Studien zeigen, dass Homeoffice sowohl positive wie negative Folgen für Arbeit und Gesundheit haben kann.

Mögliche positive Effekte sind eine bessere Work-Life-Balance, mehr Flexibilität, höhere Produktivität und Arbeitszufriedenheit. Auf der anderen Seite stehen als mögliche negative Effekte die Entgrenzung der Arbeit, die Belastung durch ständige Erreichbarkeit und Abendarbeit, physische Beschwerden durch schlechtere Arbeitsbedingungen und zu wenig Bewegung. Nicht zu unterschätzen sind auch die soziale Isolation und die mögliche Distanzierung vom Unternehmen.

Wenn Beschäftigte im öffentlichen Dienst aufgrund psychischer Beschwerden langfristig ausfallen, können Unterstützungsleistungen – etwa in der Sozial- und Jugendhilfe, im Pflegebereich – nicht zügig auf den Weg gebracht werden. Das zieht weitere gesellschaftliche Folgen nach sich.

Ja, eine versagende Organisation im öffentlichen Sektor kann nicht isoliert betrachtet werden. Das hat oft gravierende gesellschaftliche Folgen. Zu viele Reibungsverluste beispielsweise in Kommunalverwaltungen sind problematisch für die Kommune, weil dadurch die Qualität und Menge der erbrachten Dienstleistungen leidet. Dennoch werden die aktuellen Fehlzeiten in vielen Verwaltungen und Branchen einfach ignoriert. Man interessiert sich nicht dafür. Die Fürsorgepflicht spielt eine zu geringe Rolle. Das muss im Sinne einer funktionierenden Gesellschaft dringend verändert werden. Grundlegend ist, die eigene Organisation erst einmal zu diagnostizieren. Wir brauchen dazu entsprechende Daten und auch regelmäßige Zeiten der gemeinsamen Reflektionen innerhalb der Belegschaft. Betriebliche Gesundheitsmanagement kann diese Kulturveränderung anstoßen und begleiten.

Vielen Dank für das Gespräch!
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