Betrugsfälle im Gesundheitswesen
„Ohne Hinweisgeber ist es schwierig“
Durch Korruption verliert die Versichertengemeinschaft Millionen. Gleichzeitig gelingt es Krankenkassen, einen immer größer werdenden Teil der Gelder zurückzuholen. Patrick Sievert, Referent für Interne Revision und Fehlverhaltensbekämpfung bei der AOK über Betrugsfälle, Aufklärungsmethoden und die Chancen von KI.
Veröffentlicht:Herr Sievert, was bedeutet „Fehlverhalten im Gesundheitswesen“?
Grundsätzlich umfasst das die rechtswidrige Nutzung von Finanzmitteln der Kranken- und Pflegekassen. Dazu zählen Unregelmäßigkeiten wie Betrug, Bestechung, Bestechlichkeit, Urkundenfälschung, Vorteilsgewährung und Vorteilsnahme – beispielsweise durch Leistungserbringer und Versicherte, aber auch durch Arbeitgeber sowie Beschäftigte der Kranken- und Pflegekassen. Intern unterscheiden wir zusätzlich drei weitere Kategorien.
Welche sind das?
Die erste Kategorie ist „Fehlinterpretation der rechtlichen Grundlage“. Dabei werden Leistungen aus Unkenntnis falsch abgerechnet. Beispielsweise, weil Leistungserbringer eine Neuregelung übersehen haben. Wir suchen in solchen Fällen das Gespräch, bitten um Korrektur, damit ist das meist erledigt.
Die zweite Stufe ist „fahrlässiges Fehlverhalten“. Dabei sind sich die Personen bestimmter Regelungen bewusst, verletzen diese aber aus Unachtsamkeit oder mangelnder Sorgfalt. Auch solche Fälle lassen sich in der Regel unbürokratisch klären.
Die dritte Gruppe beinhaltet „vorsätzliches Fehlverhalten“. Dahinter steckt Absicht, meist um eine Gewinnmaximierung oder Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenten zu erlangen.
Unter den insgesamt knapp 7.600 neuen Fällen, die 2022 und 2023 dazu gekommen sind, stammen knapp 2.800 und damit mit Abstand die meisten Tatbestände aus der Kategorie „Pflege / Häusliche Krankenpflege“. Warum ist dieser Bereich besonders anfällig für Missbrauch?
Der Gesetzgeber hat die Regularien so gefasst, dass der Zugang zu Pflege für die meist älteren Menschen möglichst niedrigschwellig ist. Das ist ja auch sinnvoll. Dadurch eröffnen sich aber auch Spielräume für Missbrauch.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel bei der von den Kassen bezahlten Verhinderungspflege für pflegende Angehörige. Diese wird in der Regel ohne aufwendige Nachweispflicht gewährt. Manche machen daraus ein lukratives Geschäftsmodell, bei dem sie pro Jahr bei sehr vielen Pflegebedürftigen Leistungen abrechnen, und der Verdacht besteht, dass nicht immer die entsprechenden Tätigkeiten erbracht wurden.
Ein anderes Beispiel ist, dass Pflegedienste hoch qualifizierte und damit teure Pflegekräfte abrechnen, stattdessen aber schlechter qualifizierte und schlechter bezahlte Mitarbeiter einsetzen. Um das zu vertuschen, fälschen Täter schon mal Qualifikationsnachweise oder andere Dokumente.
Einen Spitzenplatz im Fehlverhaltens-Ranking nimmt mit 1.139 neuen Fällen auch der Bereich „Arzneimittel“ ein. Was fällt darunter?
Ein Klassiker funktioniert so: Ein Versicherter geht von Praxis zu Praxis, betreibt also „Ärzte-Hopping“, und lässt sich jedes Mal ein spezielles Medikament verordnen – meist ein Substitutionspräparat. Die Rezepte löst er in Apotheken ein und verkauft die Medikamente auf dem Schwarzmarkt, etwa an Drogenkonsumenten.
Wie fliegt dieser Betrug auf?
Die Kollegen in der Abrechnungsstelle stellen fest, dass jemand Tagesdosen bekommen hat, die ein Pferd umhauen würden. In einem Fall hatte sich eine Frau enorme Mengen an extrem starken Schmerzmitteln verordnen lassen. Ein AOK-Kollege fand heraus, dass die Versicherte im Reitsport aktiv war, sich die teure Veterinärmedizin sparen und die Schmerzmittel für ihre Tiere von der Krankenkasse bezahlen lassen wollte. Mit ePA und E-Rezept dürfte ein solches Vorgehen aber weniger werden.
Im Berichtszeitraum 2022/23 stieg die Zahl der Hinweise auf Fehlverhalten im Vergleich zum Vorberichtszeitraum um etwa 14 Prozent. Woraus resultiert aus Ihrer Sicht die verstärkte Bereitschaft, mögliches Fehlverhalten zu melden?
Offenbar sind die Menschen sensibler geworden. Sie merken, dass die Beiträge steigen, alles teurer wird – und es ist ja ihr Geld, das missbraucht wird. Deshalb wollen immer mehr nicht mehr wegschauen, wenn sich Leute auf Kosten der Gemeinschaft bereichern.
Die von den AOKen verfolgten Fälle sind im Vergleich zum Vorberichtszeitraum um rund 1,9 Prozent gestiegen, die AOK-Meldungen an Staatsanwaltschaften aber um gut 18 Prozent gesunken. Von 7.600 Neufällen wurden nur 1.100 an Staatsanwaltschaften weitergeleitet. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Das ist ein Zeichen von Professionalisierung. Früher hat jede AOK und jede andere Krankenkasse bei begründetem Verdacht Strafanzeigen gestellt. Mittlerweile kooperieren die einzelnen AOKen untereinander und arbeiten mit anderen Kassen zusammen. Eine Kasse übernimmt die Koordination, informiert gegebenenfalls die Staatsanwaltschaft und regelt die Angelegenheit für die anderen Geschädigten. Kurz gesagt: Wir fassen Fälle, die mehrere Kassen betreffen, zusammen und übergeben dann den Gesamtkomplex an die Ermittlungsbehörden.
Dieses Vorgehen hat auch den Vorteil, dass wir mehr Beweise haben, Beweise in größeren Zusammenhängen präsentieren können und dass ein Fall beispielsweise nicht fünfmal, sondern nur einmal durchgefochten werden muss.
Die elf AOKen konnten 2022 und 2023 rund 42,8 Millionen Euro für die Versichertengemeinschaft zurückholen. Worauf beruht dieser Erfolg?
Einerseits auf der schon erwähnten Professionalisierung. Dadurch steigt das Risiko, bei Fehlverhalten erwischt zu werden. Andererseits gab es im vergangenen Berichtszeitraum einen Einzelfall mit einer außergewöhnlich hohen Schadenssumme, die für alle Kassen aber auch gesichert werden konnte. Darüber hinaus befindet sich schlicht immer mehr Geld im Gesundheitssystem. Dadurch steigen die Schadenssummen – aber eben auch die Beträge, die wir zurückholen können.
Die AOK will bei der Fehlverhaltensbekämpfung den Einsatz Künstlicher Intelligenz forcieren. Das erfordert aber auch großen technischen Aufwand – etwa beim Training der Algorithmen. Zudem besteht die Gefahr von falsch-positiven Treffern. Die von der KI markierten Fälle müssten also geprüft werden. Überwiegen dennoch die Vorteile?
KI erfordert zunächst einen gewissen Aufwand, das stimmt. Aber einen Punkt muss ich korrigieren: Die KI offenbart keine Fälle, sondern markiert Auffälligkeiten. Genau darin liegt ein Vorteil. Um mögliche Regelverstöße zu erkennen, wären wir bei der Suche nach Ungereimtheiten nicht mehr nur auf externe Hinweisgeber und internen Prüfungen angewiesen.
Bei den großen Datenmengen, von denen wir hier sprechen, wäre eine KI-Suche ein riesiger Vorteil, weil mehr Material in kürzerer Zeit mit weniger Personalaufwand gesichtet werden kann.
Können Sie das genauer erklären?
Sicher. Wir kennen zum Beispiel ein Phänomen, das wir bei Pflegediensten beobachten. Wir nennen es „beamen“: Ein Pflegedienstmitarbeiter hat laut Beleg an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit einen AOK-Versicherten besucht und rechnet seine Arbeit bei der zuständigen AOK ab. Wir prüfen – anscheinend alles plausibel.
Derselbe Pflegedienstmitarbeiter rechnet bei einer anderen Krankenkasse die Betreuung eines dort versicherten Patienten ab, den er zeitgleich oder nur kurze Zeit später an einem völlig anderen Ort besucht haben will. Die Prüfer dieser Kasse erkennen ebenfalls keine Auffälligkeiten und zahlen. Bei Krankenkasse Nummer drei dasselbe Spiel. Und so weiter.
Der Pflegedienstmitarbeiter müsste über die Fähigkeit des „Beamens“ verfügen, um zeitgleich oder in kurzen Abständen unterschiedliche – teilweise weit voneinander entfernt wohnende – Patienten aufzusuchen.
Genau. Und weil bislang niemand diese Fähigkeit besitzt, handelt es sich sehr wahrscheinlich um Abrechnungsbetrug. Im großen Stil praktiziert, können mit dieser Methode große Schadenssummen zusammenkommen. Ohne Hinweisgeber, etwa aus den Pflegediensten selbst, ist es schwierig, den Betrug zu erkennen. Ein KI-Tool, dass automatisiert Abrechnungsdaten mehrerer Krankenkassen analysiert, würde die sich überlappenden Pflegezeiten sehr schnell entdecken.
Vielen Dank für das Gespräch!