Versorgungsengpass
Quantensprung für vulnerable Gruppen
Ein Beispiel aus dem Landkreis Tuttlingen zeigt, wie Abrechnungsdaten aus der Pflegeversicherung die Gesundheitsversorgung auch in ländlichen Regionen sicherstellen können.
Veröffentlicht:Wenn Thomas Leibinger im Rathaus aus seinem Bürofenster schaut, sieht er blühende Landschaften. Die Gemeinde Bubsheim, der er seit 2012 als Bürgermeister vorsteht, erstreckt sich auf einer Hochfläche zwischen zwei Tälern mitten auf der Schwäbischen Alb. Während aus anderen ländlichen Regionen junge Menschen in Städte abwandern, oft aufgrund fehlender Arbeitsangebote und Freizeitmöglichkeiten, ziehen hier große, auch international agierende Betriebe jede Menge Nachwuchs an. Dennoch hat Leibinger ein Problem: Ärztemangel. „Die Hälfte der praktizierenden Ärzte ist um die 60“, erzählt er. Vor allem Hausärzte fehlten. Gleichzeitig ziehen immer mehr Familien mit Kindern in den Ort.
Alteingesessene und Zugezogene wünschten sich daher eine bessere medizinische Versorgung. Bürgermeister Leibinger verwies auf die Kassenärztliche Vereinigung (KV). Doch der gelang es nicht, die freien Arztplätze hier, auf dem Heuberg zu besetzen. Deshalb gründete die Gemeinde eine gemeinnützige Genossenschaft: das „Gesundheitsnetz Heuberg“; beschloss außerdem, ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) zu bauen und startete auf YouTube eine Werbekampagne, um Mediziner in die Region zu locken.
September 2024: In Bubsheim praktizieren zwei neue Ärzte, ein Kinderarzt, der aus Hannover ins Schwabenland gezogen ist, und eine Allgemeinmedizinerin, ebenfalls neu in der Gegend. Ihre Praxen befinden sich im neuen MVZ, in der Nähe des Rathauses. Angestellt sind beide Mediziner bei der Genossenschaft. „Extrem weitergeholfen hat uns der Überblick, den Frau Thoma über den gesamten Landkreis Tuttlingen hat“, sagt Thomas Leibinger.
Blick ins Jahr 2030
Rund 20 Kilometer südlich von Bubsheim sitzt Marianne Thoma hinter ihrem Schreibtisch in einer Außenstelle des Landratsamts Tuttlingen. Sie leitet die Fachstelle für Pflege und Selbsthilfe. „Meine Aufgabe ist es, Kommunen beim Aufbau von Versorgungskonzepten zu beraten“, erzählt sie. Ihre Leitfrage laute: „Was brauchen wir, um eine wohnortnahe Versorgung sicherzustellen?“ Seit 2023 hilft ihr SAHRA dabei. Das Akronym steht für Smart Analysis Health Research Access und ist ein Datenprojekt, das zunächst in Brandenburg startete (siehe Interview) und im vergangenen Jahr auch von Städten und Landkreisen Baden-Württembergs übernommen wurde.
Morgens um acht fährt Marianne Thoma ihren Rechner hoch, startet SAHRA, klickt, scrollt, und zeigt auf ihren Monitor. Dort ist eine detaillierte Karte von Baden-Württemberg zu sehen, die sich vergrößern und verkleinern lässt. Selbst kleinste Weiler, irgendwo am Rande der Schwäbischen Alb, sind zu erkennen. Thoma wählt ihr Zuständigkeitsgebiet und eine Zahl erscheint auf dem Bildschirm: 7.815 Pflegebedürftige leben derzeit im Landkreis Tuttlingen. Anschließend bewegt sie die Computermaus ins Jahr 2030: 8.400 Pflegebedürftige. Mit solchen Prognosen lassen sich Trends erkennen.
Doch SAHRA kann mehr. Thoma verändert einige Filtereinstellungen und sagt: „Hier sieht man, dass in drei Gemeinden im Norden des Landkreises die Zahl an Menschen zwischen 30 und 60 Jahren mit diagnostizierten Herzinsuffizienzen auffallend hoch ist.“ Was bedeutet das? „Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dort in den kommenden Jahren mehr Pflegebedürftige mit kardiovaskulären Einschränkungen leben als anderswo“, erklärt die Expertin.
Das Problem: Bislang existieren dort kaum entsprechende Betreuungsangebote – wie oft in ländlichen Regionen. „Deshalb müssen wir jetzt beginnen, Versorgungsnetzwerke aufzubauen“, erklärt Thoma.
Das „Gesundheitsnetz Heuberg“ ist ein Netzwerk, das bereits existiert. Neben dem MVZ bietet es spezielle Angebote für pflegebedürftige Menschen. Eine Anlaufstelle ist Veronika Hermle-Wehl. Die examinierte Krankenschwester hat jahrelang ein Altenpflegeheim geleitet, seit 2023 arbeitet sie als Patientenlotsin. Auf Wunsch besucht sie erkrankte oder pflegebedürftige Menschen, beurteilt die häusliche Situation, kontaktiert Ärzte oder organisiert anderweitig Hilfe. „Ich möchte, dass die Menschen solange wie möglich im eigenen Heim leben können und mit meiner Arbeit gleichzeitig die Angehörigen entlasten“, sagt sie. Für Patienten ist dieses Angebot kostenlos. An einem Dienstagnachmittag klingelt die Patientenlotsin an der Tür von Katharina Hafen.
Noch wenige Wochen zuvor hatte sich die 83-Jährige um ihr kleines Häuschen, ihren Garten, die Küche und den pflegebedürftigen Ehemann gekümmert. Zum Einkaufen fuhr sie mit ihrem Auto. „Immer unfallfrei“, betont sie. Doch dann stürzte Katharina Hafen auf der Kellertreppe. Diagnose: Fußfraktur. Es folgten Operation, Reha und Wochen später die Entlassung.
Hilfreiche Lotsin
Doch besonders für ältere Menschen kann sich der Umzug vom Krankenhausbett in die eigenen vier Wände in einen Hindernislauf verwandeln. Fühlen sie sich in der geschützten Klinikumgebung noch stark genug, ihren Alltag zu bewältigen, geraten sie zu Hause an ihre Grenzen. Katharina Hafen wird sich bis auf Weiteres mit einem Rollator statt mit ihrem Auto fortbewegen. Deshalb hat ein Klinikmitarbeiter noch während des Krankenhausaufenthalts von Katharina Hafen die Patientenlotsin informiert.
Veronika Hermle-Wehl konnte schon vor ihrem ersten Besuch bei der älteren Dame wichtige Angelegenheiten erledigen. Sie legt zwei Rezepte auf den Tisch, für Physiotherapie und Lymphdrainage; erklärt, dass beide Therapeuten zu Hafen nach Hause kommen. Außerdem wird eine Medizinische Fachangestellte regelmäßig vorbeischauen und eine Freiwillige des Nachbarschaftsvereins hilft im Haushalt. „Ich bin froh, dass Sie sich um alles kümmern“, bedankt sich Katharina Hafen zum Abschied bei der Patientenlotsin.
Um Projekte wie im Landkreis Tuttlingen zu planen, brauchen die Mitarbeiter in Rathäusern und Landratsämtern präzise Zahlen. Diese Daten liefert im flächenmäßig drittgrößten Bundesland die AOK Baden-Württemberg. In der Stuttgarter Zentrale kümmert sich Karin Gaiser um SAHRA. Die AOK-Spezialistin für Ganzheitliche Gesundheitsberatung sagt: „Nur wenn bekannt ist, wo die Gemeinschaft in der Fürsorge für vulnerable Gruppen steht und was dort gebraucht wird, kann eine vernünftige Bedarfsermittlung funktionieren.“ Vor einiger Zeit besuchte Karin Gaiser einen Workshop mit Vertretern aus 25 Kommunen. „Ich bekam nur positive Rückmeldungen“, erinnert sie sich, „einige Teilnehmer sprachen von einem Quantensprung in der Sozialraumplanung“.