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Konsequenzen der anhaltenden Fallzahl-Rückgänge in Krankenhäusern

WIdO-Vize: „Ambulantisierung ist eine Chance“

Nach einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK liegen 2023 die Klinik-Fallzahlen weiter unterhalb der Vor-Pandemie-Jahre. Der stellvertretende WIdO-Geschäftsführer David Scheller-Kreinsen skizziert mögliche Ursachen.

Ein Interview von Frank Brunner Veröffentlicht:
WIdO-Geschäftsführer David Scheller-Kreinsen

WIdO-Geschäftsführer David Scheller-Kreinsen

© AOK-Bundesverband

Herr Dr. Scheller-Kreinsen, bei der anstehenden Krankenhausreform soll die Höhe der Vorhaltefinanzierung auf Basis der Zahl der zuletzt behandelten Fälle festgelegt werden. Könnte der jüngste Fallzahlanstieg auch aus einem taktischen Verhalten der Kliniken resultieren?

Wir sehen jedenfalls in den Daten der ersten Monate von 2024 wieder Fallzahlanstiege. Richtig ist auch: Mit Blick auf die Anreize ist der aktuelle Entwurf des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes eine Katastrophe: Sowohl das Ausgangsniveau der Vorhaltevergütung als auch der Fallzahlkorridor für künftige Anpassungen des Vorhaltebudgets leiten sich aus der Fallzahl ab, die Kliniken jetzt oder in einem künftigen Indexjahr erreichen. Jeder Klinikmanager, der seinen Job macht, muss diese Zahlen im Blick haben. Es wäre sehr gut, wenn die Politik hier schnell gegensteuert und den entsprechenden Passus ändert. Die Vorhaltevergütung ließe sich ja auf Basis der Planfallzahlen – nach dem Versorgungsauftrag einer Leistungsgruppe – oder notfalls aus dem Durchschnittswert mehrerer vergangener Jahre ableiten. Bleibt es bei der bisherigen Regelung, ist der Anreiz für eine Fallzahlausweitung gegeben. Hamsterrad 2.0, wenn Sie so wollen.

In den vergangenen Jahren waren durchgehend sehr starke Fallzahl-Rückgänge in den Krankenhäusern im Vergleich zum „Vor-Pandemie-Jahr“ 2019 zu verzeichnen. Was hat das für Konsequenzen für die Kliniken?

Die Nachfrageseite hat sich offensichtlich strukturell verändert. Das zeigt sich deutlich in der Bettenauslastung und der Fallzahlentwicklung. Die Kliniken müssen darauf reagieren und sich auf die Bereiche konzentrieren, die ihre medizinischen Kernkompetenzen abbilden. Gelegenheitsversorgung wird ansonsten zunehmen – mit negativen Konsequenzen für Patientinnen und Patienten und auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kliniken. Denn ohne Anpassung der Kapazitäten und Strukturen wird der wirtschaftliche Druck in den Kliniken zunehmen. Die Ausgangslage war ja auch ohne die jüngsten Fallzahlentwicklungen klar: Wir wissen aus Daten des Statistischen Bundesamtes, dass mehr als 50 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland weniger als 200 Betten aufweisen. Diese Kleinstkrankenhäuser können, abgesehen von wenigen Spezialanbietern, weder unter Qualitätsgesichtspunkten noch aus betriebs- und personalwirtschaftlicher Perspektive sinnvoll geführt werden.

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Sind diese Rückgänge auch in anderen Ländern festzustellen oder ist das ein deutsches Phänomen?

Die OECD weist für praktisch alle Länder bis Ende 2022 starke Fallzahleinbrüche aus. Für das Jahr 2023 liegen die Daten noch nicht flächendeckend vor. Aus einzelnen Ländern wissen wir aber schon, dass sich die Fallzahlen weiterhin unterhalb der Vor-Pandemie-Niveaus bewegen. Ob sich das dramatisch auf die wirtschaftliche Lage der Kliniken auswirkt, hängt auch davon ab, wie direkt die Erlöse an die Fälle gekoppelt sind. Die Fallabhängigkeit der Klinikerlöse ist in Deutschland besonders hoch.

Was bedeuten die Fallzahl-Rückgänge im Hinblick auf die anstehende Krankenhausreform?

Zunächst verstärkt es den Handlungsdruck. Auch aus betriebswirtschaftlicher Perspektive gilt jetzt das, was volkswirtschaftlich und unter Qualitätsgesichtspunkten schon lange klar ist: Konzentration ist notwendig. Die historische gewachsene Krankenhausstruktur muss in diese Richtung weiterentwickelt werden. Darauf ist die Krankenhausreform auszurichten: Mit einer klaren Kopplung von Vorhaltevergütung und Planung. Mit klaren Versorgungsaufträgen, die sich am Bedarf ausrichten und auf relevante Strukturanforderungen aufsetzen.

Können Sie diese Strukturanforderungen an einem Beispiel erläutern?

Nehmen wir das Beispiel Herzinfarkt. Aktuelle Auswertungen der Kolleginnen und Kollegen vom WIdO zeigen, dass nach wie vor viele Patientinnen und Patienten mit Herzinfarkt nicht optimal versorgt werden, weil sie in Kliniken ohne Herzkatheterlabor eingeliefert werden. Von den rund 191.000 Herzinfarkt-Fällen im Jahr 2022 in Deutschland wurden 4,9 Prozent in Kliniken behandelt, die über kein Katheterlabor verfügten. Das Problem betraf somit rund 9.400 Herzinfarkt-Behandlungen.

Aus den Analysen wissen wir, dass in 80 Städten Herzinfarkte in Kliniken ohne Herzkatheterlabor behandelt wurden, obwohl im gleichen Ort ein Krankenhaus mit einem solchen Labor existierte. Eine Krankenhausreform müsste beinhalten, dass Kliniken bestimmte Behandlungen nur noch durchführen dürfen, wenn sie entsprechende Strukturen vorhalten.

Besonders groß sind die Rückgänge weiterhin bei ambulant-sensitiven Fällen. Offenbar kommen diese Patientinnen und Patienten nicht zurück in die Kliniken. Wie ist Ihre Erklärung dafür und was bedeutet das für die Versorgung?

Wir sehen schon seit Beginn der Pandemie, dass die Fallzahlrückgänge im Bereich der sogenannten ambulant-sensitiven Fälle besonders hoch sind. Das ist ein stabiles Ergebnis, das den Reformbedarf hin zu einer Ambulantisierung deutlich macht. Pointiert ausgedrückt: Die Patienten stimmen schon mit den Füßen ab, die Strukturen und der regulative Rahmen müssen folgen. Es ärgert mich dabei, dass dieses Thema oftmals negativ diskutiert wird. Die Ambulantisierung ist eine Chance: Patienten werden niedrigschwelliger behandelt. Das wünschen sich doch die meisten Betroffenen.

Auch mit Blick auf das Fachkräftethema hat Ambulantisierung Vorteile: Werden mehr Fälle ambulant behandelt, werden dringend benötigte Fachkräfte entlastet und können in anderen Versorgungsbereichen tätig werden. Gerade in der Altenpflege kann uns das helfen. Aber auch die Kliniken stehen untereinander im Wettbewerb um Fachpersonal. Volkswirtschaftlich bestehen ohnehin keine Zweifel: Wir können es uns nicht leisten ambulant-sensitive Fälle in teuren Krankenhausstrukturen zu behandeln, nur weil die Strukturen vorhanden sind.

Welche weiteren Möglichkeiten in Richtung Ambulantisierung sehen Sie?

Wenn wir eine Ambulantisierung von stationären Fällen wollen, reicht der Blick alleine auf die Krankenhausseite nicht aus. Zwingend muss auch das Thema der Notfallversorgung adressiert werden. Wesentlich ist dabei eine enge und verpflichtende Verzahnung des Rettungsdienstes mit der ambulanten und stationären Notfall- und Akutversorgung. Ohne diese Weichenstellung dürfte eine sinnvolle Patientensteuerung in ein künftig zwingend noch klarer gestuftes System von Akut- und Notfallstrukturen kaum umsetzbar sein. In diesem Kontext ist auch der Versorgungsauftrag der vertragsärztlichen Versorgung näher zu bestimmen, der ausreichend Kapazitäten für die ambulante Akutversorgung umfassen muss.

Vielen Dank für das Gespräch!

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