Alzheimers 150. Geburtstag
Der Mann, der das Vergessen entdeckte
Sie stellen unsinnige Dinge an wie kleine Kinder. Aber es sind keine lustigen Streiche. Patienten mit Morbus Alzheimer wissen oft nicht mehr, was sie tun - und leiden sehr darunter. Der Psychiater Alois Alzheimer brachte Hirnveränderungen und Gedächtnisschwund in Zusammenhang.
Veröffentlicht:MÜNCHEN. Ein alter Mann irrt nachts durchs Haus. Er trägt fünf Hemden übereinander, hat die Taschen vollgestopft mit Geschirr, Handtüchern, Zahnbürste - und will zur Schule. Eine Frau trinkt zwei Liter Weichspüler, überlebt knapp. Diagnose in beiden Fällen: Morbus Alzheimer.
Rund 1,4 Millionen Menschen leiden allein in Deutschland an einer demenziellen Erkrankung, bis zum Jahr 2050 rechnet die Deutsche Alzheimer Gesellschaft wegen der steigenden Lebenserwartung mit drei Millionen Betroffenen.
Als der Psychiater Alois Alzheimer vor gut 100 Jahren an seiner dementen Patientin Auguste Deter erstmals Hirnveränderungen entdeckte, dachte er noch, er habe es mit einer ganz seltenen Krankheit zu tun. Am Samstag (14. Juni) wäre Alzheimer 150 Jahre alt geworden.
Geboren im unterfränkischen Marktbreit, studiert der Sohn des Notars Eduard Alzheimer und seiner Frau Theresia Medizin in Berlin, Tübingen und Würzburg. Danach beginnt er als Assistenzarzt in der Frankfurter Städtischen Heilanstalt für Irre und Epileptische. Der Fall der Auguste Deter fesselt ihn.
"Wie heißen Sie?" - "Auguste." - "Familienname?" - "Auguste." - "Wie heißt ihr Mann?" - "Ich glaube Auguste." Der Dialog schreibt Medizingeschichte. Auguste wird 1901 von ihrem Mann verwirrt und orientierungslos in die Anstalt gebracht, sie ist erst 51 Jahre alt. Sonst ist sie gesund, ein psychisches Trauma ist nicht erkennbar. Der Gedächtnisverlust gibt den Ärzten Rätsel auf. Alzheimer dokumentiert seine Gespräche und Beobachtungen auf 31 Seiten.
Als er Frankfurt verlässt, um in München an der Psychiatrischen Klinik das Hirnanatomische Laboratorium zu leiten, verliert er Auguste Deter nicht aus den Augen. Nach ihrem Tod am 8. April 1906 lässt er sich ihr Gehirn schicken, untersucht es unter dem Mikroskop - und entdeckt massiven Zellschwund und ungewöhnliche Ablagerungen.
Ein halbes Jahr später berichtet er bei der 37. Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte über das eigenartige Krankheitsbild und einen "eigenartigen schweren Erkrankungsprozess der Hirnrinde". Seine Kollegen werten seine Entdeckung als Kuriosität.
Gesamtgesellschaftliche Konzepte nötig
Hirnforschung lag damals im Trend. Viele Ärzte untersuchten Gehirngewebe unter dem Mikroskop, machten mit Farbstoffen Strukturen sichtbar, beschrieben Veränderungen. Alzheimer war aber der erste, der einen Zusammenhang zwischen Ablagerungen und Gedächtnisschwund bei einer jüngeren Patientin herstellte.
Die bislang dominante Hypothese besagt, dass die meist nach dem 65. Lebensjahr einsetzende Krankheit durch einen zu langsamen Abbau von Amyloid-Peptiden ausgelöst wird, wodurch Hirnzellen absterben. Folge: Betroffene ringen um Worte, können Bankautomaten nicht mehr bedienen, erkennen Familie und Freunde nicht mehr.
Angehörige finden später häufig ganze Sammlungen von Zetteln, Notizen auf abgerissenen Zeitungsecken oder gebrauchten Briefumschlägen mit Erinnerungen wie "Achtung!", "Lisa fragen", "Erich ist tot", "Wie geht es weiter?", wie Susanna Saxl von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sagt. Oft stehe die gleiche Notiz auf vielen Zetteln - daraus sei auch die Verzweiflung abzulesen.
Die Auslöser der Krankheit sind indes noch nicht klar. Lebensstil und Ernährung spielen wohl eine Rolle, häufige Gehirnerschütterungen bei Sportarten wie Boxen. Studien wiesen auch genetische Dispositionen nach.
"Die Ursache ist multifaktoriell", sagt der Münchner Psychiater Timo Grimmer. "Die Menschen werden gesünder älter - und damit haben sie schlichtweg eine höhere Chance, so eine Erkrankung zu erleben."
Die rapide Zunahme der Fälle alarmiert Grimmer und seine Kollegen. "Eine Volkskrankheit, die Millionen betrifft, lässt sich irgendwann nicht mehr beherrschen." Die Experten hoffen auf neue Therapien. Wurden zu Alzheimers Zeit Betroffene als Irre weggesperrt, setzen die Experten heute auch auf die Gesellschaft. "Das Modell der Zukunft muss sein, dass die Menschen verstärkt solidarisch miteinander umgehen", sagt Grimmer.
"Es geht nicht um reine Pflegekonzepte, sondern um gesamtgesellschaftliche Konzepte", sagt Saxl. Nötig sei eine sorgende Gemeinschaft. "Das fängt an mit der älteren Dame, die dreimal am Tag zum Bäcker kommt und zehn Brötchen kauft." Dem Bankkunden, der hohe Summen abhebt. Der Seniorin, die im Supermarkt nicht bezahlt.
Was sonst mit Polizei ende, lasse sich lösen, wenn Verkäufer Bescheid wüssten. "Dazu gehört, dass jeder weiß, wie er mit Menschen mit Demenz umgehen muss, dass die Leute nicht weggucken und weglaufen." Oft sind es gerade die Betroffenen, die weggucken. Das Vergessen bringt Angst und Scham.
Auch Alzheimer sah an seiner Patientin Auguste Angst, Misstrauen, Ablehnung und Verzweiflung. In den Gesprächen mit ihm sagte sie: "Ich habe mich sozusagen verloren." Alzheimer sprach von der "Krankheit des Vergessens". Erst nach seinem Tod wurde sie nach ihm benannt. Er starb 1915 mit nur 51 Jahren - jünger als seine Patientin. (dpa)