Nach der Corona-Pandemie

Der Traum von neuen Goldenen Zwanzigern

Wiederholt sich Geschichte? Einige sagen neue Goldene 20er Jahre, ähnlich wie vor 100 Jahren, voraus – nach der Pandemie. Denn: „Seuchen mögen neu für uns sein. Für die Menschheit sind sie es nicht.“

Von Gregor Tholl Veröffentlicht:
Berlin den 20er Jahren: Schmelztiegel aus Armut, Mode, Theater, Filmindustrie – und Nachtleben: Revue-Girls des Damenballetts Ehed Karina in Berlin, um 1920.

Berlin den 20er Jahren: Schmelztiegel aus Armut, Mode, Theater, Filmindustrie – und Nachtleben: Revue-Girls des Damenballetts Ehed Karina in Berlin, um 1920.

© picture alliance / akg-images

Berlin. Kaum eine Dekade ist so legendär wie die 1920er Jahre. Die Goldenen Zwanziger haben vor allem in Deutschland einen magischen Klang. Damals blühten Wirtschaft, Gastronomie, Mode, Theater, Filmindustrie, Nachtleben. Die deutsche Hauptstadt – verklärt als Babylon Berlin – schien der Mittelpunkt der Welt zu sein. Anfang der 20er herrschten zunächst jahrelang Armut, Hyperinflation und politische Instabilität, Europa und Deutschland waren mit den Folgen des Weltkriegs und auch einer Pandemie, der Spanischen Grippe, beschäftigt. Bis zum „Tanz auf dem Vulkan“ in den Jahren 1924 bis 1929 dauerte es. Wird es jetzt auch so kommen? Und: Wird die zweite Hälfte der 2020er Jahre dann golden und glänzend?

Der Psychologe Simon Hahnzog hofft, dass so bald wie möglich Kunst, Kultur und gesellschaftliches Leben intensiv zurückkommen – und dass in neuen Goldenen 20er Jahren „die aufgestaute Lebenslust“ aus den Menschen herausbrechen kann. Auf diese Zeit freue er sich schon. Spannend sei die Frage, ob es neben persönlicher Hoffnung auch eine empirisch begründbare Annahme dafür gebe.

Abhängig vom sozialen Kontakt

Durchaus, meint Hahnzog. Dafür spreche in erster Linie der zentrale Wesenszug des Menschen als soziales Wesen, als „zoon politikon“. „Wir sind abhängig vom sozialen Kontakt mit anderen Menschen. Gesundheit ist in der Gründungscharta der WHO nicht ohne Grund als körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden definiert.“ Außerdem gebe es den „Bumerang-Effekt“: Werde ein Verhalten unterdrückt, komme es anschließend umso stärker zurück. Nach Corona werde der Wert und die Bedeutung von Kunst, Kultur und Ausgehen intensiver wahrgenommen werden, da alles so lange ausgeschlossen war.

Resilienz-Experte Hahnzog meint auch: „Der Drang der Menschen nach lebendigem Leben und nicht nur absichernder Existenz ist ein starker Veränderer.“ Je länger die Phase der Verbote dauere, desto stärker sei davon auszugehen, dass sich Kunst und Kultur auch im Untergrund zurückmelden. „Das könnte für deren Diversität und Neuartigkeit eine ähnliche Wirkung haben, wie die Goldenen Zwanziger des letzten Jahrhunderts. Ganz in dem Sinne, dass Protest gegen Sanktionen nicht nur destruktiv ist, sondern immer auch kreatives Potenzial hat.“

Gemeinschaftserlebnisse zählen

Anfangs werde die Wiederbelebung etwa der Theater und Clubs „das Gemeinschaftserlebnis intensivieren und dessen Wertigkeit und Bedeutsamkeit noch weiter erhöhen“. „Bereichernd kommt noch hinzu, dass sich die Personengruppen, die an diesen Events teilnehmen, verändert haben dürften im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit. Manche werden ihr Interesse und Bedürfnis nach diesen Facetten ihres Lebens neuentdecken und wiederentdecken – andere, die bislang sehr kunst- und kulturaffin waren, werden sich vielleicht zurückziehen.“ Der Vielfalt und dem kreativen Output werde das in jedem Falle guttun.

Gleichwohl dürfe nicht vergessen werden, betont Hahnzog, dass die Zahl psychischer und sozialer Störungen und Erkrankungen in den letzten Monaten stark gestiegen sei und in nächster Zeit weiter steigen werde. „Manche Akteure wie Teilnehmende werden nicht mehr zu Aktivität in der Lage sein. Dies wird manches einschränken – birgt aber zugleich Potenzial für neue Wege oder freie Plätze der Kunst- und Kulturlandschaft, die von neuen Akteuren eingenommen werden.“

Auch der amerikanische Soziologe und Arzt Nicholas Christakis von der Yale-Universität glaubt, dass es nach der Corona-Krise zu einer „Neuauflage der Goldenen Zwanziger“, der „Roaring Twenties“ komme, ähnlich wie nach der Spanischen Grippe vor gut 100 Jahren. „Machen wir uns klar: Seuchen mögen neu für uns sein. Für die Menschheit sind sie es nicht“, sagte der Wissenschaftler der „Welt“.

Der Drang der Menschen nach lebendigem Leben und nicht nur absichernder Existenz ist ein starker Veränderer.

Simon Hahnzog, Psychologe

Seuchen haben demnach neben ihrem biologischen Verlauf auch einen sozialen. „Sie enden erst dann, wenn alle glauben, dass es wirklich vorbei ist.“ So sei das bei allen großen Pandemien gewesen: Ist das Virus erst einmal biologisch kaltgestellt, kommen psychologische und ökonomische Aufräumarbeiten.

Der Unternehmensberater Achim Berg von McKinsey sagte kürzlich dem „Spiegel“, nach den Corona-Restriktionen werde eine Menge nachgeholt werden. „Vielleicht eine Chance, die „Roaring Twenties“ des letzten Jahrhunderts in diesem Jahrhundert zu wiederholen.“ Das denkt auch Soziologe Christakis: Im Corona-Nachklang werde es einen Aufschwung geben, weil die Menschen das Geld ausgeben, das sie zurückgehalten haben. „Es wird ein Frühling sein, künstlerisch, wirtschaftlich, technologisch und auch politisch.“

Epidemien seien wegen der Toten, der zerstörten Lebensgrundlagen und der sozialen Isolation „Zeiten der Trauer“. „Viele Menschen werden in der Not religiöser. Nach der Pandemie wird sich all das umkehren. Kneipen, Nachtclubs, Erotik, Sexualität, all das wird sehr wichtig werden.“ Bis zur vollen Normalität werde es aber wohl bis Anfang 2024 dauern. (dpa)

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