Politisierte Medizin

Leid und Unrecht in der "Tripperburg"

In geschlossenen venerologischen Stationen der DDR wurden einst Frauen mit Verdacht auf Geschlechtskrankheiten festgehalten – es ging um die politische Umerziehung vermeintlich Asozialer.

Von Pete Smith Veröffentlicht:

HALLE. Die junge Frau ist 15, als sie in eine ihr unbekannte Einrichtung zwangseingewiesen wird. "Wir mussten uns alles ausziehen", erinnert sie sich Jahre später. "Wir standen praktisch nackig im Behandlungszimmer, wurden untersucht auf brutalste Weise."

 Ihre geliebten langen Haare werden ihr abgeschnitten. "Wir haben dann Kopftücher bekommen, jeder einen Schlüpfer, solche komischen Latschen und einen ellenlangen grauen alten Kittel." Wochenlang wird die junge Frau in der "Tripperburg" festgehalten, wie Leidensgenossinnen die geschlossene Station nennen. Ihr Vergehen: Verdacht auf eine Geschlechtskrankheit.

Buchtipp

  • Florian Steger und Maximilian Schochow: Disziplinierung durch Medizin: Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961 bis 1982. Mitteldeutscher Verlag. Halle (Saale): 2015. 184 Seiten. 12,95 Euro. ISBN 978-3-95462-351-8
  • Florian Steger und Maximilian Schochow: Traumatisierung durch politisierte Medizin. Geschlossene Venerologische Stationen in der DDR. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Berlin 2015. 255 Seiten. 19,95 Euro. ISBN 978-3-95466-240-1

Allein 1968 wurden in der DDR insgesamt 2763 Mädchen und Frauen in geschlossene venerologische Stationen zwangseingewiesen, wie historische Quellen belegen, die Professor Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm, ausgewertet hat.

Offiziell begründete man die Freiheitsberaubung mit Verdachtsdiagnosen wie Gonorrhö und Syphilis. Doch tatsächlich ging es um die politische Umerziehung vermeintlich Asozialer. Von den 2763 im Jahr 1968 angeblich von Geschlechtskrankheiten betroffenen "Patientinnen" waren tatsächlich 72 Prozent völlig gesund.

Isoliert und zur Arbeit verpflichtet

Zwangseinweisungen gab es bereits in der sowjetischen Besatzungszone ab 1947. Nach dem Willen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) sollten Geschlechtskranke und Personen mit "häufig wechselnden Geschlechtspartnern" (HWG) in den Einrichtungen diszipliniert, isoliert und zur Arbeit verpflichtet werden.

 Die Staatsführung der DDR manifestierte dieses Unrecht in ihrer am 23. Februar 1961 erlassenen "Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten". In deren Folge entstanden geschlossene venerologische Stationen in Berlin, Berlin-Buch, Halle (Saale), Dresden, Erfurt, Leipzig, Frankfurt (Oder), Gera, Rostock und Schwerin.

 De facto waren es Haftanstalten, die vom Ministerium für Staatssicherheit überwacht wurden. In ihnen ging es weniger um Heilung oder Hygiene als um Resozialisierung im Geiste der sozialistischen Ideologie, wie eine Notiz von Dr. S. an die Patientin M. vom 18. April 1966 belegt: "Ich (…) nehme gerne zur Kenntnis, dass Sie zur Einsicht gekommen sind und in Zukunft ein geordnetes Leben führen wollen."

Viele der betroffenen Mädchen und Frauen im Alter von zwölf bis 72 Jahre erlitten die Hölle auf Erden. Nach der unwürdigen Aufnahmeprozedur mit Enthaarung, Entlausung und dem Anlegen der Anstaltskleidung erfolgte eine erste Untersuchung.

Zeuginnen haben die sexualisierte Gewalt einiger Ärzte dokumentiert: "Die hat dann wahnsinnig geblutet, die Kleine, und da hat er (der Arzt, Anm.) gesagt: ‚So, nun hattest du einen Mann gehabt.‘" In Folge brutalster Behandlungsmethoden kam es zu Lähmungen, Schüttelfrost und Fehlgeburten.

Gewalt und Willkür setzten sich in den Unterkünften fort, wo die Stubenälteste häufig Schläge austeilte oder Strafen verhängte, etwa Zwangstätowierungen, Isolation, Schlaf- oder Essensentzug.

Nachtruhe auf dem Hocker

Während ihrer bis zu zwölf Wochen währender Haft wurden die Opfer täglich gynäkologisch untersucht. "Erst wenn dreißig negative Abstriche nachgewiesen wurden, konnten die Mädchen und Frauen entlassen werden", erläutert Medizinhistoriker Steger. Zur "Arbeitstherapie" gehörte das Putzen der Station, Dienst in der Wäscherei, Näh- oder Bügelstube sowie Hilfstätigkeiten für die Schwestern.

Durch ein System von Belohnungen (etwa Zuteilung von Zigaretten) und Bestrafungen (Nachtruhe auf dem Hocker) sollten die Zwangseingewiesenen gefügig gemacht werden. "Widerstand", so Steger, "ist kaum überliefert."

Viele der Opfer sind bis heute traumatisiert. Manche haben Angst vor Ärzten oder gynäkologischen Untersuchungen, andere leiden unter Schlafstörungen, sexueller Inappetenz und Inkontinenz. Alleinerziehenden wurden mitunter die Kinder entzogen, die in Heimen aufwachsen mussten, sodass sich das Trauma der Opfer auf die nachfolgende Generation vererbt hat.

In den vergangenen Jahren haben Richter in Magdeburg, Nauen und Dresden die damaligen Zwangseinweisungen in geschlossene Venerologische Stationen für rechtswidrig erklärt. In Anerkennung des Unrechts wurde 2015 vor der ehemaligen Poliklinik Mitte in Halle (Saale) ein Gedenkstein für die Opfer eingeweiht. Eine Entschädigung steht noch aus.

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