Anschlag auf "Charlie Hebdo"
So kommt es zur Idee, den "Propheten zu rächen"
Nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin "Charlie Hebdo" rätseln viele: Wie kann es im Namen einer Religion zu derartiger Brutalität kommen? Antworten darauf gibt Religionspsychologe Prof. Murken im Exklusiv-Interview.
Veröffentlicht:PARIS. Der Anschlag auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins "Charlie Hedbo" am Mittwoch in Paris hat zwölf Menschen das Leben gekostet. Wie kommt es ausgerechnet im Namen einer Religion zu derartiger Brutalität, wie der islamistische Terrorismus sie zeigt?
Für Professor Sebastian Murken, Religionspsychologe, Psychotherapeut und Honorarprofessor an der Religionswissenschaftlichen Fakultät der Uni Marburg, birgt eine Religion auch immer die Gefahr, dass sich ihre Anhänger radikalisieren. Er plädiert im Interview mit der "Ärzte Zeitung" deshalb für säkulare Formen der Gemeinschaft.
Prof. Dr. Sebastian Murken
Studium der vergleichenden Religionswissenschaft (M.A.) sowie der Psychologie (Diplom)
Habilitation an der Universität Leipzig im Jahr 2005, mit Lehrbefugnis für das Fach Religionswissenschaft
Honorarprofessor für Religionswissenschaft an der Uni Marburg seit 2008
Leitender Psychologe der Psychosomatischen Fachklinik St. Franziska-Stift in Bad Kreuznach seit 2009
Ärzte Zeitung: Herr Prof. Murken, wie erklärt die Religionspsychologie den islamischen Extremismus?
Prof. Sebastian Murken: Letztlich geht es um Identität. Der Mensch will wissen, wer er und wozu er ist. Das gehört zu seinem Wesen. Und ein Teil der Identität ist auch immer eine Gruppenidentität, eine Zugehörigkeit; somit auch die Verbindung mit anderen Menschen und Ideen.
Allerdings hat diese Identität Nebenwirkungen und zwar die der Abgrenzung. Das sieht man auch nicht nur bei Religionen, sondern auch auch etwa in Nationalstaaten, Ethnien oder auch Jugendkulturen: "Ich bin so und die andern sind so".
Aber was führt ausgerechnet bei Religionen zu einer derartigen Gewalt?
Murken: Religiöse Radikalisierung finden wir zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Religionen. Sie ist der Versuch, die eigene Identität zu schützen, zu spüren, zu entwickeln und sie schließlich dort zu verteidigen, wo man glaubt, sie sei bedroht.
Man findet sie aber auch in anderen Bereichen, wie im Nationalismus oder bei Stammeskämpfen. Auch da wird Identität als Träger von Abgrenzung gewaltsam verteidigt. Das Probem mit der Religion nun ist ihr Absolutheitsanspruch, ihr Bezug auf nicht hinterfragbare Glaubenssätze oder Heilsvorstellungen.
Der religiöse Mensch kann sich stets auf eine höhere Sache beziehen und wird am Schluss dafür belohnt. So stammt auch die Idee, "den Propheten zu rächen", wie möglicherweise in Paris beabsichtigt, aus dieser Haltung. Da glaubte jemand, im Dienste einer höheren Sache zu handeln.
Religion heißt ja eigentlich Rückbindung, "re-ligio". Hat sie ihre Sache verloren, wenn sie so stark auf die Gruppenzugehörigkeit und höhere Ideen setzt, statt auf das Wachstum persönlicher Religiosität?
Murken: Das ist eine sehr akademische Perspektive, weil dahinter eine These steht, was Religion leisten soll und wie sie idealerweise sei. Aber das trifft es nicht. Religion ist das, was bestimmte Menschen zu einem bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort daraus machen.
Und es ist müßig zu sagen, dies oder jenes sei nicht der eigentliche Islam, das eigentliche Christentum, die Theologen wissen es besser.
Wenn also die islamischen Theologen und die Gläubigen sagen, der islamische Terrorsimus habe nichts mit dem Islam zu tun, würden Sie widersprechen?
Murken: Ja. Selbstverständlch legitimert sich der Terrorismus aus dem Islam, wenn auch - aus der Sicht der Mehrheit der Muslime - aus einem falsch verstandenen Islam. Aber natürlich prägt eine, wie auch immer simplifizierte, islamisch geprägte Haltung diese Extremisten.
Und diese Haltung muss um so stärker verteidigt werden, um so stärker sie sich angegriffen fühlt. Und hier zeigt sich ein Wechselspiel zwischen Islamophobie und Stigmatisierung des Islam auf der einen Seite und Abgrenzug und Dämonisierung westlicher Werte und Lebensweisen auf der anderen Seite: So entsteht eine sich aufschaukelnde Spirale.
Damit wären wir bei der Pegida-Bewegung. Viele Moslems in Deutschland sind wohl verwurzelter in ihrer Religion als viele Christen hierzulande in der ihren. Ist Pegida auch aus dieser eigenen Entwurzelung entstanden?
Murken: Ja, das kann sein. Pegida agiert nicht aus der direkten Begegnung mit dem Islam, sondern eher aus einem diffusen Unbehagen heraus, nach dem Motto: "Unsere Identität wird angegriffen und unterwandert, wir können nicht mehr sein und bleiben wer und was wir sind."
Der katholische Theologe Prof. Hans Küng hat mit seinem Projekt "Weltethos" die These aufgestellt: Wenn Frieden herrschen soll, dann müssen zuerst die Religionen untereinander Frieden schließen. Wäre das die Lösung für das Problem islamistischen Terrorismus?
Murken: Zunächst ist es wichtig, sich mit den wechselseitigen Feindbildkonstruktionen auseinander zu setzen und die Frage zu stellen, warum z. B. Karikaturen als so bedrohlich erlebt werden.
Was ist durch Meinungsfreiheit und Pressefreiheit abgedeckt und was nicht? Ich persönlich fand manche islamkritische Karikaturen durchaus geschmacklos. Da müssen wir uns auch selbstkritisch fragen, wo auch Worte, Bilder und Symbole aggressive Komponenten aufweisen.
Was Küng anbietet, wäre sicher eine Lösung aus der Sicht der religiösen Gemeinschaften selbst: das Verbindende zu suchen statt das Trennende und damit ein religiöse Metaindentität zu schaffen. Was unsere eigene Gesellschaft angeht, frage ich mich allerdings, ob man durch die Aufhebung der Verquickung von Staat und Religion nicht zu so einer Metaidentität beitragen könnte.
Wenn schon in den Schulen im Religionsunterricht die Kinder nach Konfessionen getrennt werden, ohne zu wissen, was die anderen denken und glauben, fördern wir durch diese Strukturen eher die Abgrenzung und das wechselseitige Unbehagen, statt Gemeinsamkeit und Verbindendes zu betonen.
Einen gemeinsamen Religionsunterricht würde ich hier für sehr viel zielführender halten, als die konfessionellen Spaltungen und Abgrenzungen in Form von verschiedenem Religionsunterricht in die Schulen zu holen und staatlich zu unterstützen.
Allerdings sprechen wir vom aktuellen Terrorismus im Mutterland des Laizismus - Frankreich. Unseren Nachbarn hat es hier nicht geholfen, Staat und Kirche streng zu trennen.
Murken: Das ist richtig. Auf der anderens Seite ist die Gesellschaft in Frankreich deutlich hierarchischer und undurchlässiger als in Deutschland, so dass die Frage der Zugehörigkeit und Identität auch auf der sozialen Ebene dort hoch relevant ist.
Religion setzt Grenzen und engt ein, aber sie gibt auf der anderen Seite auch Sicherheit. Wenn sie wegfällt, sind die Menschen dann überfordert mit ihrer neuen Freiheit? Erst recht, wenn ihnen im Islam eine entschlossene Religion entgegentritt?
Murken: Das ist sicher richtig. Die Frage ist, ob die Umkehrung stimmt: Sollen wir Religionen stärken, damit jeder wieder einen Rock hat, unter den er schlüpfen kann? Das ist sicher eine ganz schwierige individuelle und gesellschaftliche Herausforderung: Wie entsteht Identität in der Moderne, wenn wir keine vorgegeben Identitäten annehmen können und wollen?
Wo können wir finden, was die Religionen in dieser Beziehung lange geleistet haben? Da gibt es keine einfachen Antworten, leider. Die Auflösung identitätstiftender Religionen schafft auch ein Vakuum. Die Frage ist: Wo entstehen neue Dimensionen des Wir-Gefühls?
Ja, wo?
Murken: Die Frage ist, wie man Identität auf eine humane und säkulare Weise schaffen kann. Wie kann man heute durch Nachbarschaftsmodelle, Gruppen oder Wohnmodelle Strukturen schaffen, die Identität stiften? Das ist die Aufgabe moderner Menschen in individualisierten Gesellschaften.
Die klassischen religiösen Gemeinschaften werden ihre Mitglieder verlieren, so viel ist klar. Darum ist die Frage, wie man Zugehörigkeit und Identität neu finden und entwickeln kann.
Also, Straßenfest statt Gottesdienst und Freitagsgebet als Mittel gegen den Terrorismus?
Murken: Wäre schön, wenn es so einfach wäre. Es liegt noch viel Arbeit vor uns.
Das Interview führte Christian Beneker