Tagebuch eines AiW im Rettungseinsatz

Seenotretter Schmid: „So viele ertrinken im Mittelmeer und so wenige Menschen juckt‘s“

Im Tagebuch berichtet Jörg Schmid, angehender Allgemeinmediziner, von seinem Einsatz an Bord des Seenotrettungsschiffs Humanity 1. Heute denkt er über einen Teufelskreis, lange Wege und ein Gedankenexperiment nach.

Jörg SchmidVon Jörg Schmid Veröffentlicht:
Jörg Schmid beim Look-out auf der Humanity 1.

Jörg Schmid beim Look-out auf der Humanity 1.

© Judith Büthe / SOS Humanity

Montag, 5. August 2024. Im Hafen von Civitavecchia, nördlich von Rom, hatte die Humanity 1 am Tag zuvor 58 Gerettete an Land gebracht. Jetzt ist das Schiff wieder zurück in internationale Gewässer im Mittelmehr. Jörg rekapitulier die Geschehnisse für sein Tagebuch noch einmal.

Wir sind zurück, wieder auf dem Weg ins Einsatzgebiet im internationalen Gewässer im zentralen Mittelmeer. Wir haben gestern (Sonntag) 58 Menschen wohlbehalten an Land gebracht und das werde ich euch gleich noch alles in Ruhe erzählen. Ich habe mir jetzt erst mal einen schattigen Ort hinten am Achterdeck gesucht.

Es ist unglaublich heiß. Ich bin heute Morgen mit der Sonne kurz nach sechs aufgestanden, wollte ein bisschen Sport machen. Danach habe ich hier die Toiletten und Duschen der Überlebenden geputzt und bis zwölf Uhr drei Liter getrunken. Aber erstmal der Reihe nach.

Referrals und Arztbriefe

Gestern sind wir in Civitavecchia angekommen, in der Nähe von Rom, um dort die Überlebenden an Land zu bringen. Und alle waren unglaublich aufgeregt, die Crew und natürlich auch die Geretteten. Es gab dann ein kleines Gesundheitsscreening von der Gesundheitsbehörde. Die sind an Bord gekommen, haben sich jeden einzelnen Menschen angeschaut und untersucht. Es gab auch eine Polizeianhörung, das ist eigentlich Standard, immer eine Hygieneinspektion. Es ist ein ganz schön spät geworden abends, und alle waren wirklich k.o., die Crew aber doch zufrieden mit dem, was wir gemacht haben.

Für die Geretteten geht es jetzt weiter mit dem nächsten Kapitel ihrer langen Reise. Und das versuchen wir an Bord schon ein bisschen vorzubereiten. Da haben wir verschiedene Prozesse etabliert, zum einen Referrals, also Überweisungen. Da arbeiten wir mit verschiedenen NGOs an Land zusammen, mit dem Roten Kreuz, aber auch mit vielen anderen, die sich um Kinder oder um Familien kümmern beispielsweise.

Wir versuchen schon an Bord rauszufinden, welche Vulnerabilitäten verschiedene Menschen haben und wie ihnen an Land besser geholfen werden kann. Auch von der medizinischen Seite versuchen wir, so gut es geht, das alles vorzubereiten, wenn wir verschiedene Krankheiten schon kennen, auch chronische Erkrankungen, wir versuchen Arztbriefe zu schreiben, um dann auch eine medizinische Anbindung an Land besser möglich machen zu können.

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Seenotretter Schmid: „So viele ertrinken im Mittelmeer und so wenige Menschen juckt‘s“
Bei der Ausschiffung der Geretteten im Hafen von Civitavecchia.

© Judith Büthe / SOS Humanity

Seenotretter Schmid: „So viele ertrinken im Mittelmeer und so wenige Menschen juckt‘s“
Bei der Ausschiffung der Geretteten im Hafen von Civitavecchia.

© Judith Büthe / SOS Humanity

Seenotretter Schmid: „So viele ertrinken im Mittelmeer und so wenige Menschen juckt‘s“
Bei der Ausschiffung der Geretteten im Hafen von Civitavecchia.

© Judith Büthe / SOS Humanity

Seenotretter Schmid: „So viele ertrinken im Mittelmeer und so wenige Menschen juckt‘s“
Bei der Ausschiffung der Geretteten im Hafen von Civitavecchia.

© Judith Büthe / SOS Humanity

Teufelskreis aus Folter und Flucht

Nachdem die Geretteten jetzt von Bord sind und wir wieder zurück ins Einsatzgebiet fahren, ist zum ersten Mal Zeit darüber nachzudenken, was eigentlich alles passiert ist in den letzten Tagen. Gerettete haben uns viel erzählt, während den Konsultationen, aber auch an Deck, von Gewalt, von Folter. Sie haben uns auch die Narben gezeigt, die sie dabei erlitten haben.

In Libyen gibt es oft einen Teufelskreis aus Gefängnis, Folter. Oft werden dann Videos gemacht, die an die Angehörigen geschickt werden, um die Gefangenen freizupressen. Die versuchen dann über das Mittelmeer zu flüchten und werden oft von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen und illegal zurück nach Libyen gebracht.

Das ist ein klarer Bruch von Völkerrecht, weil in Libyen einfach keine Bedingungen herrschen, unter denen Menschen menschenwürdig leben können. Es geht so weit, dass viele das bis zu fünf Mal oder öfter machen. Das hat uns einer erzählt. Und der Cultural Mediator, den wir an Bord haben, der berichtet mir sehr viel von solchen Geschichten, von Menschen, die in diesem Teufelskreis oft seit Monaten, seit Jahren feststecken und jetzt es geschafft haben, über das Mittelmeer zu fliehen und diesem Teufelskreis zu entkommen.

An der Flucht gehindert

Ich habe auch mit unserer Menschenrechtsbeauftragten an Bord gesprochen. Die hat mir erzählt, dass laut offiziellen Zahlen vom UN Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) im ersten Halbjahr 2024 nur ein Viertel so viele Menschen in Italien angekommen sind wie im vergleichbaren Zeitraum im Vorjahr.

Jetzt könnte man sich freuen, dass weniger Menschen fliehen müssen. Aber so einfach ist es nicht. Es kommt eher daher, dass es viel mehr illegale Rückführungen gibt von der sogenannten libyschen Küstenwache, die die Menschen auf dem Meer abfangen. Und das verstößt klar gegen internationales Recht. Die werden dann oft eben, wie ich es vorhin erwähnt habe, in Libyen wieder eingesperrt in Gefängnisse.

Es ist auch so, dass es oft schon vorher Razzien gibt, dass die Boote zerstört werden, dass die Menschen eingesperrt werden und daran gehindert werden, über das Mittelmeer zu fliehen.

Vor einiger Zeit hat einer der Überlebenden gesagt Und das ist bei mir hängen geblieben: „Ich sterbe lieber im Mittelmeer, als nur einen Tag weiter in Libyen zu leben.“ Nachdem, was ich jetzt schon gesehen und gehört habe, kann ich mir das leider sehr gut vorstellen.

Unnötig lange Wege zum Place of Safety

Jetzt, auf dem Weg zurück ins Einsatzgebiet, geht unsere Arbeit weiter. Wir putzen die Stationen, bereiten alles wieder vor. Die Schnellboote machen weiter Trainings in dieser glühenden Hitze hier. Ich habe vor ein paar Tagen mit dem Ersten Offizier gesprochen. Der hat eine Wassertemperatur von 30 Grad Celsius gemessen. Und hier ist es selbst im Schatten am Schiff oft über 35 Grad heiß.

Das hat man auch gemerkt, dass die Menschen so geschwächt wie sie sind, dieser Hitze noch standhalten müssen auf dem langen Weg zu dem Place of Safety, der uns von den italienischen Behörden zugewiesen wird, unnötigerweise entfernt. Wir sind wieder 1.000 Kilometer weit gefahren, bis in die Richtung von Rom.

Und die Politik schaut weg

Und ich möchte noch ein kleines Gedankenexperiment mitgeben, das von Peter Singer, dem Philosophen, stammt. Der hat gesagt: Stellt euch mal vor, ihr lauft zu Hause durch einen Park und seht dort im See ein Kind ertrinken. Jeder Mensch würde sich sofort da reinstürzen, hinschwimmen und das Kind retten.

So viele Menschen ertrinken gerade im Mittelmeer und so wenige Menschen juckt‘s und die Politik schaut weg und das Sterben geht weiter.

Wir machen uns jetzt aber zurück ins Einsatzgebiet, um zumindest ein bisschen was dazu beizutragen, dass das ganze Leid abgemildert wird.

Ich werde mich wieder melden. Bis dann!

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