Digitaler Beifahrer
System setzt bei Unfall Notruf ab
Nicht nur in der Medizin, auch im Verkehr spielt die Telematik eine große Rolle. In Zukunft sollen Autofahrer bei schweren Unfällen automatisch mit dem Rettungsdienst verbunden werden. Unklar ist noch, ob Versicherer oder Industrie dabei das Sagen haben.
Veröffentlicht:KÖLN. Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) bringt 2016 ein eigenes Notrufsystem für das Fahrzeug auf den Markt. Damit kommen die Versicherer den Autoherstellern zuvor, die ab 2018 in Europa alle Neuwagen mit dem E-Call ausstatten müssen.
Mit dem System sollen Rettungskräfte schneller von Unfällen erfahren und früher vor Ort sein können. Der Unfallmeldedienst (UMD) der Versicherer erlaubt es Autobesitzern auch, Gebrauchtwagen nachzurüsten.
Zwischen den Versicherern und den Autoherstellern schwelt ein Konflikt um die Hoheit über die Fahrerdaten.
Zu der Funktionsweise des UMD äußert sich der Versicherer-Verband nicht. Die Mitglieder des GDV wissen offenbar bereits mehr: Danach besteht das System aus einem Unfallmeldestecker, der Unfälle erkennt und klassifiziert, und aus einer Unfallmelde-App.
Für die Nutzung muss der Fahrer nur die App auf sein Smartphone laden und den Stecker in eine 12 Volt-Steckdose im Fahrzeug stecken. Was das System kosten wird, ist nicht bekannt.
Der UMD-Stecker misst die Fahrgeschwindigkeit und soll einen Aufprall erkennen. Die Daten leitet er per Bluetooth-Verbindung an die App weiter. Sie versendet eine Unfallmeldung und baut eine Sprachverbindung zwischen einem Service-Center und dem Fahrer auf. Reagiert er nicht, wird der Rettungsdienst alarmiert.
Das Kalkül der Autoindustrie
Dass die Versicherer der Autoindustrie ein eigenes Notruf-System entgegensetzen, hat Kalkül. Um den E-Call gibt es eine lange und heftige Auseinandersetzung zwischen Herstellern und Versicherern.
Das hinter dem E-Call liegende System im Fahrzeug agiert nicht nur bei Unfällen, sondern misst auch sonst viele Daten - etwa Route, Geschwindigkeit, Brems- und Beschleunigungsverhalten der Fahrer.
Sollten aber die Hersteller als einzige Zugriff auf diese Daten haben, können sie eigene Versicherer damit versorgen und so eine deutlich bessere Risikoauswahl und -bepreisung erreichen als die Konkurrenz.
VW hat schon die Mehrheit an der Volkswagen Autoversicherung, die Minderheit hält die Allianz. Andere Autokonzerne könnten folgen.
Concierge-Service als Add-on
Nicht nur das Kerngeschäft der Versicherer würde unter der allzu engen Vernetzung von Fahrern und Autoherstellern leiden.
Die Datenanbindung der Fahrzeuge öffnet der Autoindustrie den Weg zu lukrativem Geschäft mit Dienstleistern, wie Fluggesellschaften, Hotels oder Tankstellenbetreibern.
BMW bietet zu seinem Notrufsystem bereits einen Concierge-Service an, bei dem ein Callcenter-Mitarbeiter während der Fahrt ein italienisches Restaurant sucht, ein Hotelzimmer bucht oder dem Fahrer mitteilt, ob sein Flug Verspätung haben wird.
Mit intensiver Lobbyarbeit kämpften die Versicherer für eine offene Schnittstelle beim Datentransfer. Unterstützung fand der GDV beim Verbraucherzentrale Bundesverband, der sich um den Schutz der Fahrerdaten sorgte, sowie beim ADAC und dem Zentralverband Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe.
Er vertritt die Interessen von Kfz-Werkstätten in Deutschland. Zusammen warnten sie vor einem drohenden "Datenmonopol der Autohersteller".
Die EU entschied sich zu ihren Gunsten für eine "standardisierte, sichere und diskriminierungsfrei zugängliche Schnittstelle für den Austausch von Kfz-Daten".
Ob in Zukunft wirklich der Kunde entscheiden kann, wer seine Fahrdaten ausliest, ist noch unklar.
Die Allianz und andere Versicherer verhandeln nach Brancheninformationen auch bilateral mit einzelnen Herstellern. Gut möglich, dass es Lösungen gibt, von der die Mehrheit der Versicherer nichts hat.
Versicherer mit Vorsprung
Durch den E-Call wird das künftige Unfallmeldesystem der Versicherer nicht obsolet. Zum einen haben die Versicherer mit dem UMD zwei Jahre Vorsprung vor der Automobilindustrie.
Zeit, in der sie als digitaler Beifahrer neben den Autofahrern Platz nehmen können. Zudem statten die Autohersteller naturgemäß nur Neuwagen mit dem E-Call aus. Bis alle Fahrzeuge in Deutschland damit ausgerüstet sind, werden einige Jahre vergehen.
Die Versicherer hingegen bauen ihren Notruf in alle Fahrzeuge ein, also auch die bestehenden. Damit zielen sie auf die breite Masse der rund 60 Millionen zugelassenen Fahrzeuge in Deutschland, darunter 44 Millionen Personenkraftwagen.