Rezension
TV-Serie „Charité“: Medizin zwischen Mauerbau, Polio und Eitelkeiten
Die ARD-Erfolgsserie „Charité“ geht in die dritte Runde. Nach den Ende des 19. Jahrhunderts und im Zweiten Weltkrieg angesiedelten ersten beiden Staffeln, werden das berühmte Berliner Krankenhaus und seine Ärzte nun zur Zeit des Mauerbaus in Szene gesetzt.
Veröffentlicht:Berlin. „Wenn Sie, meine Herren, Ihr Zentralorgan nicht im Griff haben, müssen Sie die Konsequenzen tragen“, ruft der in Anzug, Weste und Fliege gekleidete Professor den Männern im Hörsaal zu. „Dieses Institut wird künftig dafür Sorge tragen, dass sich niemand mehr seiner Vaterpflichten entziehen kann.“
Dieses Institut ist die berühmte Berliner Charité und der schicke Dozent niemand anderes als der renommierte Serologe und Gerichtsmediziner Professor Otto Prokop. Wir schreiben den 6. August 1961, eine Woche vor Mauerbau. Die Charité liegt im Ostsektor Berlins und droht, personell auszubluten, da es immer mehr Ärzte, Schwestern und Pfleger in den nur einen Steinwurf entfernten Westen zieht.
Ganz andere Pläne verfolgt die junge Internistin Dr. Ella Wendt, die an der Charité ihre Forschungen zur Krebsfrüherkennung voranbringen will. Dieses Vorhaben muss sie jedoch zunächst zurückstellen, da sie dringend auf Station gebraucht wird und auch ihr großes Vorbild Prokop nichts von ihren Ansätzen hält.
Spannendes Skript, gute Darsteller
Gleich in der ersten Folge von „Charité“ bahnen sich die Dramen an. Mit der 3. Staffel setzt die ARD ihre Erfolgsserie fort. Gewohnt routiniert und wie in den vorangegangenen Staffeln mit einem spannenden Skript sowie überzeugenden Darstellern: neben Nina Gummich (Wendt) und Philipp Hochmair (Prokop) spielen sich vor allem Nina Kunzendorf in der Rolle der visionären Kinderärztin Dr. Ingeborg Rapoport und Uwe Ochsenknecht als konservativer Gynäkologe Professor Helmut Kraatz in die Herzen der Zuschauer.
Die Serie
- Die 3. Staffel der „Charité“ läuft seit dem 12. Januar 2021 im Abendprogramm der ARD in Doppelfolgen und ist seit dem 5. Januar bereits in der ARD-Mediathek verfügbar.
- Auch die begleitende Dokumentation „Die Charité – Ein Krankenhaus im Kalten Krieg“, die am 12. Januar ausgestrahlt wurde, kann über die Mediathek angeschaut werden.
Einen unerwartet aktuellen und von den Machern der Serie kaum beabsichtigten Bezug zur Gegenwart stellt der in der ersten Folge inszenierte Fall des kleinen Werner dar, den seine völlig aufgelösten Eltern persönlich in die Charité einliefern. Der Junge hat 40 Grad Fieber und leidet an Lähmungserscheinungen. Schnell erhärtet sich der von Dr. Ingeborg Rapoport spontan geäußerte Verdacht, dass Werner mit dem Polio-Virus infiziert sein könnte. „Aber Kinderlähmung gibt es bei uns doch gar nicht mehr“, wendet ihr Kollege ein. „Der Junge kommt aus Westdeutschland“, klärt ihn die erfahrene Pädiaterin auf. „Da wird nicht geimpft.“ Der Zustand des Patienten verschlechtert sich so sehr, dass er sogar in die vor fünf Jahren eingemottete Eiserne Lunge muss. Am Ende jedoch überlebt der Junge und kann schließlich sogar wieder laufen.
Diskrepanz: Polio in Ost und West
Tatsächlich herrschte Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in der BRD eine schwere Polio-Epidemie. Allein 1961 erkrankten daran 4673 Menschen. In der DDR hingegen, wo bereits seit den 50er Jahren eine staatliche Impfpflicht galt, registrierte man 1961 lediglich vier Polio-Erkrankungen. Ein Grund für dieses Missverhältnis war die in Westdeutschland verbreitete Impfskepsis, ein anderer war politischer Natur: Der vom US-amerikanischen Forscher Albert Bruce Sabin entwickelte Lebendimpfstoff fand in den USA keine Förderer, weshalb sich Sabin an die UdSSR wandte, die die Vakzine in großem Maß produzierte und 1960 an die Gesundheitsbehörde der DDR weitergab.
Historische Pioniertaten, auf persönliche Schicksale heruntergebrochen: Das ist eines der Erfolgsrezepte von „Charité“, mit dem auch die dritte Staffel punktet. Egal, ob der selbstverliebte Serologe, die vom Sozialismus überzeugte Pädiaterin oder die ebenso ehrgeizige wie hoffnungsvolle Internistin – die Figuren wirken authentisch, weshalb die Identifikation mit ihnen leichtfällt. Für besondere Momente sorgen die knurrige, im Grunde ihres Herzens jedoch wohlwollende Oberschwester und der stets gut gelaunte Hausmeister „Fritze Pflaster“.
Verzeihliche Klischees
So verzeiht man den Drehbuchschreibern denn auch, wenn sie hier und dort klischeeverdächtiges Zeitkolorit einstreuen, etwa die kichernden Krankenschwestern, die trotz Doppelschichten Zeit finden, sich über die laufmaschenfreien Nylon-Strumpfhosen aus dem KdW und den kussfesten Lippenstift auszutauschen, oder die kubanische Schwester, die sich singend und tanzend auf die abendliche Party freut.
„Filme zu machen ist wie gute Medizin“, erklärt Professor Karl Max Einhäupl, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Charité, dem die Macher der Serie in der 3. Staffel einen Gastauftritt gönnen. „Jedes Detail muss stimmen.“