Nationalsozialismus
Zahnärzte tief verstrickt in Nazi-Verbrechen
Ein neues Forschungsprojekt zeigt: Große Teile der Zahnärzteschaft machten sich gemein mit der Nazi-Ideologie. Manche folterten und mordeten sogar dafür.
Veröffentlicht:Berlin. Der 1976 vom US-Regisseur John Schlesinger gedrehte Kinofilm „Der Marathon-Mann“ ist vor allem wegen einer Szene bekannt: In ihr wird der New Yorker Geschichtsstudent Thomas Levy, gespielt von Dustin Hoffmann, von einem gewissen Christian Szell auf einem Zahnarztstuhl gefoltert.
Szell ist deutscher Zahnarzt mit Nazi-Vergangenheit. Unter KZ-Häftlingen trug er den Spitznamen „Der weiße Engel“. Er quälte jüdische Gefangene und presste ihnen ihre Diamanten ab.
Studie zählt etwa 100 KZ-Zahnärzte
Auch die Realität kannte sie, die „weißen Engel“ mit ihren Bohrern und spitzen Küretten: Sie hießen Walter Sonntag, Werner Rohde oder Willi Schatz. Sie machten sich als „KZ-Zahnärzte“ mitschuldig an Morden, Selektionen und Menschenversuchen, wie das kürzlich in Berlin vorgestellte Forschungsprojekt „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“ zeigt.
Im Rahmen der Untersuchung im Auftrag der Spitzenorganisationen der deutschen Zahnärzteschaft und in Kooperation mit den Universitäten Düsseldorf und Aachen wurde in den vergangenen vier Jahren erstmals systematisch zur Rolle der Zahnheilkunde unterm Hakenkreuz geforscht. Die Zahnärzte folgen damit dem Beispiel der Ärzte, die sich seit einigen Jahren in Forschungsarbeiten ihrer Rolle im NS widmen.
Die von den Zahnärzten vorgelegte Studie zeigt, dass sich große Teile der Zahnärzteschaft mit dem Nazi-Regime gemein machten und ihm in vielerlei Hinsicht dienten. Professor Dominik Groß, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der RWTH Aachen und Studienleiter für den Komplex „Zahnärzte als Täter“ nennt konkrete Zahlen: So seien 1938 neun Prozent aller Zahnärzte in der „Allgemeinen SS“ gewesen.
60 Prozent der zahnärztlichen Hochschullehrer seien bis 1945 der NSDAP beigetreten. Mindestens 300 Zahnärzte hätten sich in der „Waffen-SS“ engagiert, rund 100 Zahnärzte seien in KZ tätig gewesen. Mindestens 48 Zahnärzte seien nach 1945 vor Gericht gestellt worden.
Es gab ideologische Schnittflächen
Groß nennt Erklärungsansätze für den „unerwartet hohen Anteil an Parteigängern“: So habe es „ideologische Schnittflächen“ zwischen Zahnärzteschaft und dem NS gegeben. Nicht wenige hätten den Antisemitismus der Nazis geteilt. Von Hitlers „Machtergreifung“ 1933 habe man sich überdies eine prominente Rolle bei der „Gesundheitserziehung“ und neue Karrierechancen versprochen.
Nach 1945 seien einige der in den NS verstrickten Zahnärzte in hohe Positionen gelang, berichtet Groß. Ein „wirklicher Neuanfang“ habe nicht stattgefunden: So seien sechs von sieben der zwischen 1949 und 1981 amtierenden Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) ehemalige Mitglieder der NSDAP gewesen.
Gleiches gelte für die Hälfte der in dieser Zeit ausgezeichneten Ehrenmitglieder und -medaillenträger. Nur zwei Prozent der Ehrungen seien dagegen an entrechtete jüdische Zahnärzte gegangen. DGZMK-Präsident Professor Roland Frankenberger spricht denn auch von einer verpassten „historischen Chance“, durch die Ehrung fachlich verdienter und politisch entrechteter jüdischer Kollegen einen „Beitrag zur Wiedergutmachung“ geleistet zu haben.
Biografien von über 1200 verfolgten Personen nachgezeichnet
Nach Angaben des Düsseldorfer Medizinhistorikers Dr. Matthis Krischel wurden im Forschungsprojekt Biografien von über 1200 in der Nazi-Zeit verfolgten Personen nachgezeichnet, darunter Zahnärzte, Studenten der Zahnmedizin und Praxismitarbeiter.
„Der überwiegende Teil wurde aufgrund ihrer jüdischen Religion oder Abstammung verfolgt, einige auch wegen aktiven Widerstands oder ihrer sexuellen Orientierung.“ 60 Prozent sei die Flucht aus Deutschland gelungen. Knapp ein Viertel derer, die blieben, sei deportiert und in Lagern ermordet worden. Nur eine Minderheit habe überlebt.
Der Chef der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Wolfgang Eßer, nennt die Verstrickung des Berufsstands in die NS-Herrschaft „bedrückend“. „Der Gedanke daran schmerzt und beschämt, ebenso wie der Gedanke an Zahnärzte, die Opfer der Nationalsozialisten wurden.“
Und Bundeszahnärztekammer-Präsident Dr. Peter Engel betont: „Das Forschungsprojekt ist ein Signal, dass die Zahnärzteschaft sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist – und diese wahrnimmt.“