Kassen-Chef Straub plädiert für patientenzentrierte Versorgungsplanung
Barmer-Studie zur Krankenhausreform: Qualität schlägt Erreichbarkeit
Das wissenschaftliche Institut der Krankenkasse hat Präferenzen von Patientinnen und Patienten untersucht: Die würden für gute Versorgung auch längere Wege in Kauf nehmen.
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BER / BERLIN 15.11.2023 BERLIN: Wirtschaftsgipfel 2023 - T 03 +++ 04 - PANEL - Jung, Schlau und faul - Wie die Generation Z den Arbeitsmarkt revolutioniert - (Mod. Bastian Brinkmann) v.l.: Annahita Esmailzadeh (Microsoft Business), Steffen Kampeter (Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände), Sybille Reiß (TUI Group), Christoph Straub (Barmer) +++ Christoph Straub (Barmer)
© Johannes Simon/SZ Photo/picture alliance
Berlin. Bei planbaren Operationen spielt die schnelle Erreichbarkeit des Krankenhauses eine untergeordnete Rolle. Darauf haben Vertreter der Barmer und des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung (bifg) am Donnerstag hingewiesen.
Eine vom bifg in Auftrag gegebene Umfrage unter gut 1000 Personen hat ergeben, dass für Patientinnen und Patienten mit Lungenkrebs die Entfernung zur Klinik und Fahrzeiten von zwischen 30 und 60 Minuten „nicht entscheidungsrelevant“ sind. Schon um die Ein-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit nur um einen Prozentpunkt zu erhöhen, würden Patienten demnach zusätzliche Minuten an Anreisezeit in Kauf nehmen. „Diese Erkenntnisse sollten künftig in eine patientenzentrierte Planung von Versorgungsstrukturen einfließen“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Barmer Professor Christoph Straub. Die Realität der Planung sieht oft anders aus. Der aktuelle Krankenhausplan Nordrhein-Westfalens zum Beispiel sieht vor, dass 90 Prozent der Bevölkerung ein Krankenhaus mit internistischen und chirurgischen Angeboten innerhalb von 20 Autominuten erreichen können sollen.
19 Standorte könnten reichen
Die Forscherinnen und Forscher des bifg unter der Leitung von Martin Rößler ermittelten zunächst für diese Indikation, dass sich in einem optimalen Szenario mit zusätzlichen 14 Minuten durchschnittlicher Anreisezeit zum Krankenhaus die Überlebensrate um 4,5 Prozent auf 93,6 Prozent steigern ließe. Würde die Versorgungslandschaft für die Thoraxchirurgie bei Lungenkrebs weniger als 142 Standorte haben, käme es zu erheblichen Verbesserungen. Optimal aufgestellt wäre demnach eine Versorgungslandschaft mit lediglich 19 Standorten überwiegend der Universitätsmedizin.
In den Daten der Barmer haben die Forschenden zudem rund 1500 Patientinnen und Patienten identifiziert, die im Jahr 2022 in insgesamt rund 190 Krankenhäusern wegen Lungenkrebs thoraxchirurgisch behandelt worden waren. Über alle Beobachteten ließ sich eine Ein-Jahres-Überlebensrate von 87,2 Prozent feststellen. In den Krankenhäusern mit Fallzahlen zwischen einem und 29 Fällen lag der Wert bei lediglich 78,5, in den Häusern mit Fallzahlen von 200 und mehr bei 93,1 Prozent.
Um die Aussagen zu untermauern sollen nun weitere Indikationen nach diesem Schema unter die Lupe genommen werden.
Krankenhausreform in der Kritik
Der von Gesundheitsminister Karl Lauterbach aufgesetzte Umbau der Krankenhauslandschaft auf der Basis des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes steht in der Kritik. Mit ihrem Ansatz einer „wohlfahrtsbasierten Versorgungsplanung“ startet die Barmer somit den Versuch, die Bedürfnisse der Bevölkerung in das Planungsgeschehen mit einzubeziehen und Vorteile höherer Fallzahlen empirisch nachzuweisen.
Die Versorgungslandschaft in Deutschland mit nach wie vor 1874 Krankenhäusern, die knapp 477.000 Betten betreiben können, sei historisch gewachsen und Ergebnis regionaler Entscheidungen, berichtete bifg-Geschäftsführer Uwe Repschläger bei der Vorstellung des Ansatzes. Die stationäre Versorgung sei somit „weitgehend Zufallsprodukt“. Auch der zunehmend aus ökonomischen Gründen erfolgende Kapazitätsabbau sei zufällig und nicht systematisch. „Die bestehende Versorgungslandschaft kann daher auch nur zufällig dem Bedarf der Bevölkerung entsprechen“, sagte Repschläger.
Qualität vor Erreichbarkeit
Der Perspektivenwechsel besteht darin, nicht die schnelle räumliche Erreichbarkeit eines medizinischen Versorgungsangebots in den Mittelpunkt der Versorgungsplanung zu stellen, sondern eine Verbindung von Behandlungsqualität und Erreichbarkeit. An der Studie des bifg haben nach Angaben der Barmer auch Mitglieder der von Noch-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vor drei Jahren einberufenen „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ mitgewirkt. Dies sind die Professores Boris Augurzky, Christian Karagiannidis und Jochen Schmitt. „Das wohlfahrtsbasierte Modell zur Ermittlung von Krankenhausstandorten richtet die Versorgungsplanung erstmals konsequent an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten aus“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Barmer Professor Christoph Straub am Donnerstag vor Pressevertretern. (af)