Vergütung und Morbidität
Die Rebellion der armen KVen
Regionen in Not: Etliche KVen beklagen herbe Finanzierungslücken - trotz steigender Morbidität. Sie werfen den Kassen "gesetzwidriges" Verhalten vor. Jetzt gehen sie auf die Barrikaden - mit einem Gutachten.
Veröffentlicht:BERLIN. In Regionen mit zunehmend alternder Bevölkerung bleibt ein Gutteil der Morbiditätslast an den niedergelassenen Ärzten hängen.Zudem ergäben sich aufgrund fehlender Zuweisungen der gesetzlichen Kassen Engpässe in der Versorgung.
Allein für die ambulante Medizin in Sachsen-Anhalt stellten die Kassen je nach Berechnungsmethode zwischen 14,2 und 19,3 Prozent weniger Geld zur Verfügung als nötig wäre.
Darauf haben Wissenschaftler und die Vorsitzenden von betroffenen Kassenärztlichen Vereinigungen bei der Vorstellung eines Gutachtens am Dienstag in Berlin hingewiesen. In sechs weiteren untersuchten KV-Regionen belaufe sich das Defizit auf zwischen 6,7 und 16 Prozent.
Die KV-Chefs appellierten an die künftige Regierung, das ihrer Meinung gesetzwidrige Verhalten der Kassen in einigen Bundesländern nicht länger zu tolerieren.
Die Kritik der in der Arbeitsgruppe "LAVA" zusammenarbeitenden KVen aus Brandenburg, Nordrhein, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Westfalen-Lippe richtet sich gegen das aktuell praktizierte System, nach dem die KVen von den Kassen Geld für die ambulante Medizin in einer Region erhalten.
Die Mittel würden nicht nach dem tatsächlichen Versorgungsbedarf verteilt, sondern nach einem in der Vergangenheit dokumentierten Versorgungsumfang.
Wille: Gesetzgebung ist eindeutig
Neutrale Schiedsleute in Schlichtungsverfahren in Sachsen und Sachsen-Anhalt haben den dortigen KVen bereits einen Anspruch auf eine Anpassung der Vergütung an die tatsächliche Morbidität zugestanden. Diese Schiedssprüche sind von den Kassen vor Ort beklagt worden.
"Die Vorwürfe sind absurd," hieß es dazu beim GKV-Spitzenverband. In Sachsen-Anhalt erhalte ein Hausarzt rund 220.000 Euro Honorar, in der KV-Region Nordrhein rund 195.000 Euro. Wer von einer Benachteiligung Sachsen-Anhalts spreche, stelle standespolitische Interessen über objektive Information, sagte GKV-Sprecher Florian Lanz der "Ärzte Zeitung".
"Das Grundproblem ist, dass es noch nie eine Adjustierung der Morbiditätslast auf dem tatsächlichen Niveau gegeben hat", sagte Sachsen-Anhalts KV-Chef Dr. Burkhard John bei der Vorstellung des Gutachtens.
Dadurch würden einem Teil der Bevölkerung Versorgungsmittel vorenthalten, auf die sie einen gesetzlichen Anspruch hätten, ergänzte Dr. Wolfgang-Axel Dryden, Chef der KV Westfalen-Lippe. Der Wohnort bestimme das Niveau der medizinischen Versorgung. Das sei ein Skandal in unserem Sozialstaat, der allen gleiche Lebensbedingungen garantiere, sagten John und Dryden.
Dies steht auch für Professor Eberhard Wille von der Universität Mannheim außer Frage, Sprecher des vierköpfigen Autorenteams des Gutachtens "Möglichkeiten und Notwendigkeit der Morbiditätsmessung im Rahmen der vertragsärztlichen Vergütung".
Die Orientierung an der Morbidität als Messlatte für den notwendigen Umfang der medizinischen Versorgung hat der Gesetzgeber eindeutig festgeschrieben, sagte Wille. Dies gehe aus dem GKV-Wirtschaftlichkeitsstärkungsgesetz hervor. (af)