Reaktionen
Hausärzte loben Koalitionsvertrag – Pflegearbeitgeber sprechen von „Gestern-Koalition“
Kaum steht der Koalitionsvertrag von Union und SPD – da hagelt es schon Reaktionen: Der Hausärztinnen- und Hausärzteverband hebt den Daumen und lobt die Stärkung der HZV. Andere reagieren enttäuscht.
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„Richtige Richtung“: HÄV-Bundesvorsitzende Professor Nicola Buhlinger-Göpfarth und Dr. Markus Beier.
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Berlin. Die Spitzen des Deutschen Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes billigen dem Koalitionsvertrag von Union und SPD zu, „in die richtige Richtung“ zu weisen. Es sei absolut richtig, dass sich Union und SPD die Etablierung eines verbindlichen hausärztlichen Primärarztsystems und die Stärkung der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) auf die Agenda geschrieben habe.
Die Koalition werde damit die Chance haben, einige der zentralen Baustellen im Gesundheitswesen anzupacken und die Versorgung nachhaltig zu verbessern, kommentierte das Bundesvorsitzenden-Duo des Verbandes Professor Nicola Buhlinger-Göpfarth und Dr. Markus Beier den gesundheitspolitischen Fahrplan der Koalition.
„Chance, Versorgung nachhaltig zu verbessern“
Die größte Herausforderung werde sein, mit immer weniger Ärztinnen und Ärzten sowie nicht-ärztlichen Fachkräften immer mehr und ältere Patientinnen und Patienten versorgen zu müssen. Dafür bedürfe es mehr Koordination, Qualität und Effizienz im System.
Buhlinger-Göpfarth und Beier werfen allerdings die Frage auf, wie ein Primärarztsystem errichtet werden solle. „Wir haben auf der einen Seite ein KV-System, das seit vielen Jahren nicht in der Lage ist, notwendige Reformen umzusetzen und bis heute keinen schlüssigen Vorschlag für ein funktionierendes Primärarztsystem vorgelegt hat“, sagten die Verbandsvorstände.
Auf der anderen Seite gebe mit den HZV-Verträgen bereits seit vielen Jahren ein funktionierendes Primärarztsystem für rund zehn Millionen Versicherte im Land.
BVKJ: Verhältnisprävention weiter schwach
Die Kinder-und Jugendärzte sehen in der Einführung eines Primärarztsystems auch in der Kinder- und Jugendmedizin einen wichtigen Schritt, um die Versorgung effizienter zu gestalten „Gerade für Kinder und Jugendliche ist eine koordinierte Behandlung über die Kinder- und Jugendarztpraxis entscheidend“, sagte der Präsident des Berufsverbands der Kinder-und Jugendärzte (BVKJ), Dr. Michael Hubmann, am Mittwochnachmittag. So ließen sich unnötige Facharztbesuche vermeiden.
Auch die Förderung der Weiterbildung und die geplante Ausweitung der Weiterbildungsstellen stößt beim BVKJ auf Zustimmung. „Wir setzen darauf, dass dieser Kapazitätsaufwuchs über eine Gleichstellung mit der Allgemeinmedizin erfolgen wird“, sagte Hubmann.
Der Verband kritisierte, dass eine konsequente Stärkung der Verhältnisprävention nicht angegangen werde. Werbeverbote für ungesunde Lebensmittel, steuerliche Anreize für gesunde Ernährung sowie eine Abgabe auf zuckerhaltige Getränke, Alkohol, Tabak und Cannabis fänden sich im Koalitionsvertrag nicht.
Gassen warnt vor falschen Schlüssen
Keine revolutionären Positionen hat KBV-Chef Dr. Andreas Gassen im Koalitionsvertrag ausgemacht. „Sicherlich ist es aus unserer Sicht schon bemerkenswert, dass die Union die Bedeutung des Gesundheitsministeriums erkannt hat“, sagte Gassen. Mit der Notfallnummer 116 117 habe es ein Produkt der Vertragsärzteschaft in den Koalitionsvertrag geschafft. Die neue Regierung will eine Notfall- und Rettungsdienstreform angehen.
Kritik übte Gassen an den geplanten Abschlägen beim Honorar für niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzte in überversorgten Regionen. Solche Gebiete gebe es de facto praktisch nicht. Er warnte vor Beschlüssen aufgrund der Bedarfsplanungszahlen. Diese wiesen nicht automatisch auf Unter- oder Überversorgung hin.
Kommissionen statt Antworten
Trotz der Ankündigung eines verbindlichen Primärarztsystems und der Notfall- und Rettungsdienst-Reform herrscht, leise Enttäuschung auf der Kassenseite: Es sei ernüchternd, dass von den ursprünglichen konkreten Vorschlägen zur Entlastung der Kranken- und Pflegeversicherung so gut wie nichts übrig geblieben sei, monierte die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands Dr. Carola Reimann.
„Ein Hoffnungsschimmer ist jedoch die klar formulierte Absicht, die strukturelle Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schließen und die seit Jahren steigende Ausgabendynamik zu stoppen“, sagte Reimann am Mittwoch. Hier brauche es allerdings mehr Tempo und Konkretisierung.
Die künftige Koalition bleibe klar hinter den Erwartungen an die eigentlich notwendigen Reformschritte zurück. „Statt Antworten auf die drängenden Finanzprobleme bei GKV und SPV zu geben, werden Kommissionen gegründet“, bedauerte Reimann.
Echte Entlastungen für die Versicherten seien nicht erkennbar. Unbeantwortet bleibe die Frage, wann der Bund seiner Verantwortung für die Finanzierung der Gesundheitsversorgung von Bürgergeldbeziehern nachkommen wolle.
Grünen-Fraktion: Klinikreform droht aufgeweicht zu werden
Die Finanzierung von Gesundheit treibt auch den Vorstandsvorsitzenden der Techniker Krankenkasse (TK), Dr. Jens Baas, um: „Weder sieht der Vertrag vor, staatliche Aufgaben endlich wieder gerecht aus der Steuerkasse statt aus dem Beitragstopf zu bezahlen, noch stehen konkrete Maßnahmen zur Kostendämpfung auf der To-do-Liste der Koalitionäre“, sagte Baas. Eine Expertenkommission werde die Beitragsspirale nicht stoppen können.
Baas bescheinigte den künftigen Koalitionären Mut für ihre Absicht, strukturiertere Wege in die ärztliche Versorgung zu entwickeln und dabei eine digitale Ersteinschätzung zu etablieren. Dafür brauche es aber auch konkrete Finanzierungsvorschläge.
Der Grünen-Gesundheitspolitiker und Arzt Professor Armin Grau kritisierte, Union und SPD wollten die erst im Oktober 2024 beschlossene Krankenhausreform aufweichen. „Durch weitere Ausnahmen und die Verschiebung wichtiger Maßnahmen wird sie in ihrer Wirkung deutlich ausgebremst. Anstatt entschlossen zu handeln, verlieren Union und SPD wertvolle Zeit.“
Pflegearbeitgeber: Gestern-Koalition am Werk
Enttäuscht bis zornig reagierte der Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP), Thomas Greiner: „Der Koalitionsvertrag ist für die Altenpflege eine einzige Enttäuschung“, sagte Greiner. Der Vertrag enthalte kein Wort zur Sicherung der Pflegeheime und kein Wort zur wirtschaftlichen Situation der Einrichtungen.
Greiner: „GeKo – die Gestern-Koalition – sollte man die neue Regierungskoalition nennen. Die Pflegepolitik von Schwarz-Rot katapultiert uns zurück in die 50er-Jahre.“ Wer einseitig die häusliche und ambulante Pflege fördere, aber Heime finanziell austrockne, zwinge Frauen zurück in die Häuslichkeit und zerstöre die Versorgungssicherheit derer, die am dringendsten Pflege benötigten.
Dramatische Abhängigkeit von China
Wichtige Weichenstellungen sieht der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) im Koalitionsvertrag umgesetzt. „Die schnelle Einigung zeigt die Handlungsfähigkeit der Parteien der Mitte“, sagte vfa-Präsident Han Steutel. Gerade vor dem Hintergrund des globalen Handelskonfliktes sei es wichtig, auf die Schlüsselindustrien des Landes zu setzen.
In der Nacht zu Mittwoch hatte US-Präsident Donald Trump auch Zölle auf pharmazeutische Erzeugnisse angekündigt. Steutel mahnte eine Modernisierung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) an. Die Branche könne ihr Innovationspotenzial ausschöpfen, wenn Arzneiinnovationen honoriert würden.
Die künftige Regierungskoalition hat sich darauf geeinigt, die Versorgungssicherheit bei Arzneimitteln zu stärken und die Produktion von kritischen Arzneimitteln zurück zu verlagern. Der Verband der Generika- und Biosimilarunternehmen Pro Generika verwies in diesem Zusammenhang auf geopolitische Risiken. Die Abhängigkeit von China sei dramatisch.
„Die neue Bundesregierung steht vor Aufgaben wie kaum eine vor ihr“, sagte Pro Generika-Geschäftsführer Bork Bretthauer. Es sei richtig, dass die neue Koalition Abhängigkeiten und Vulnerabilitäten minimieren wolle. Zielführender sei es allerdings, bestehende Produktion hier zu halten.
Ansätze bei Prävention und Digitalisierung
Der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) notierte viele gute Ansätze bei Prävention und Digitalisierung sowie bei den Anreizen zur eigenverantwortlichen Pflege-Vorsorge. Entscheidende Bedeutung für die künftige Qualität des Gesundheitswesens hätten die vorgesehenen Kommissionen zur Stabilisierung der Finanzlage in der Kranken- und Pflegeversicherung, so PKV-Chef Dr. Florian Reuther. (af/hom)