Nicht im Sinne des Präventionsgesetzes
Impfen im Betrieb ist kein Selbstläufer
Das Präventionsgesetz sollte Betriebsärzte motivieren, Belegschaften niedrigschwellige, nicht berufsindizierte Impfungen auf Kasse anzubieten. Die Realität sieht anders aus: Für die Ärzte lohnt sich das Angebot kaum, und es birgt Risiken.
Veröffentlicht:Es ist kein Rohrkrepierer, aber auch alles andere als ein Selbstläufer: Im Zeitraum von Januar 2019 bis April 2024 haben nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) etwa 77.000 Beschäftigte das via Präventionsgesetz intendierte, arbeitgeberseitig freiwillig offerierte Schutzimpfungsangebot direkt im Betrieb wahrgenommen.
Rund 88.000 Vakzinierungen seien vorgenommen worden, wie DGAUM-Hauptgeschäftsführer Dr. Thomas Nesseler im Gespräch mit der Ärzte Zeitung erläutert. Abgerechnet wird dabei meist direkt mit der Kasse des betreffenden Mitarbeiters, denn hierbei handelte es sich ausschließlich um nicht beruflich indizierte Schutzimpfungen – die beruflich indizierten müssen sowieso durch den Arbeitgeber angeboten und finanziert werden.
Brückenbau zwischen SGB VII und V
Spitzenreiter seien die Schutzimpfungen gegen Influenza, FSME, die 4-fach-Vakzinierung gegen Diphtherie, Pertussis, Polio und Tetanus sowie die 3-fach-Variante ohne Polio. Dazu seien nochmals rund 138.000 SARS-CoV-2-Schutzimpfungen an der Werkbank gekommen. Die Zahlen spiegeln das Impfgeschehen wider, das die betreffenden Betriebs- und Werksärzte über das von der DGAUM initiierte Abrechnungstool DGAUM-Selekt gemeldet haben. Das sonstige Impfen liege im Dunkelfeld, so Nesseler.
Rückblick: Das 2015 in Kraft getretene Präventionsgesetz sollte dazu führen, dass durch niedrigschwellige Angebote in verschiedenen Lebenswelten möglichst viele Menschen in Deutschland, die von sich aus nicht oder nicht oft zu einem Haus- oder Facharzt gehen, unter anderem mit Schutzimpfungen auf Kasse erreicht werden – zum Beispiel durch entsprechende freiwillige Angebote seitens der Arbeitgeber.
Vor neun Jahren gestaltete sich das noch als ambitioniertes Unterfangen für die Betriebs- und Werksärzte – sind sie doch im Dunstkreis des Sozialgesetzbuches (SGB) VII verortet, sollen aber bei Betriebsangehörigen Schutzimpfungen als Leistungsbestandteil des SGB V abrechnen. Entsprechend zurückhaltend war auch das Interesse auf Seiten der Krankenkassen und mancher Arbeitsmediziner.
Zunächst zwei Krankenkassen an Bord
2019, als DGAUM-Selekt an den Start ging, hatte die Gesellschaft gerade einmal zwei Selektivverträge geschlossen – mit der BARMER und der Bahn BKK –, womit der betreffende Betriebsarzt oder die betreffende Betriebsärztin nur bei der Verabreichung von Schutzimpfungen an Versicherte beider Kassen direkt über die eigens für DGAUM-Selekt entwickelte Abrechnungssoftware abrechnen konnte.
Bei anderweitig gesetzlich sowie bei privat versicherten Impflingen bekamen diese eine GOÄ-basierte Rechnung zum Begleichen und zum Einreichen bei ihrer Kasse respektive ihrem PKV-Anbieter zum Zwecke der Kostenerstattung ausgehändigt.
235 selbstständige Betriebsärzte sind in den Vertrag DGAUMSelekt eingeschrieben.
65 Krankenkassen haben Impfvereinbarungen mit der DGAUM für die Arbeitsmediziner geschlossen.
88.000 Impfungen (außer Corona) sind von Januar 2019 bis April 2024 über DGAUMSelekt abgerechnet worden.
138.000 SARS-CoV-2-Vakzinierungen wurden über das Vertragswerk abgerechnet.
65 Impfvereinbarungen sind es, so Nesseler, derzeit, die gemäß Paragraf 132e SGB V geschlossen sind, darunter mit allen AOK, allen Ersatzkassen, vielen IKK und BKK. Das entspreche einer Marktabdeckung bei den GKV-Versicherten von über 90 Prozent.
Das Manko: Wenn sich gesetzliche oder andere Modalitäten ändern, müsse mit jeder einzelnen Kasse über die Nachjustierung des bestehenden Vertrages verhandelt werden – ein aufwändiges Unterfangen für die DGAUM. Laut Nesseler erhalte die Fachgesellschaft lediglich 50 Cent je via DGAUM-Selekt abgerechneter Schutzimpfung.
Zur Teilnahme an DGAUM-Selekt haben sich seinen Angaben zufolge 235 selbstständige und 65 innerbetriebliche Arbeitsmediziner sowie 70 überbetriebliche arbeitsmedizinische Dienste eingeschrieben. Eine angesichts der Zahl von bundesweit knapp 9.000 Betriebsärzten eher bescheiden anmutende Hausnummer.
„Allerdings macht die inzwischen festzustellende stärkere Nachfrage, insbesondere von Betrieben und Unternehmen, Hoffnung für die Zukunft. „Aller Anfang ist schwer“, resümiert Nesseler.
Kommentar zum Impfen
Präventionsgesetz: Der Impf-Motor stottert
Impfstoffbeschaffung in Eigenregie abwickeln
Als ein wesentlicher Hemmschuh sei in diesem Zusammenhang die Tatsache anzusehen, dass die Arbeitsmediziner, die die Vakzinierung über DGAUM- Selekt abrechnen, die Impfstoffbeschaffung in Eigenregie abwickeln müssten – und zudem im Gegensatz zu niedergelassenen Haus- und Fachärzten das volle Verwurfrisiko trügen.
Dieser Aussage stimmt auch Dr. Uwe Gerecke, Wissenschaftlicher Leiter beim Verband der Betriebs- und Werksärzte (VDBW), zu. Der Berufsverband hat – wie auch die DGAUM – einen Dienstleister mit ins Boot geholt, um die Abrechnung der erbrachten Schutzimpfungen direkt über die gesetzlich vorgegebene Schnittstelle zu ermöglichen. Gerecke, Facharzt für Arbeits-, Umwelt-, Sport-, Notfall- und Suchtmedizin, hat bis dato für den VDBW alle Selektivverträge gemäß Paragraf 132e SGB V mit den Kassen ausgehandelt.
Sein nüchternes Fazit im Gespräch mit der Ärzte Zeitung: „Der Wunsch des Gesetzgebers, gerade die Betriebsärzte zu nutzen, die Kontakt zu allen Altersgruppen der erwerbstätigen Bevölkerung aufweisen, um die Impfbereitschaft zu erhöhen, wird derzeit mit den Verträgen der gesetzlichen Krankenkassen nicht erreicht. Der Gesetzgeber müsste die im Paragrafen 132e getroffenen Entscheidungen konkretisieren und einen Impfstoffbezug der Betriebsärzte analog den Vertragsärzten über einen Praxisbedarf festschreiben.“ Er erinnert an die im Zuge der Corona-Pandemie gelebte Praxis, die SARS-CoV-2-Vakzine kostenfrei über eine lokale Apotheke zu beziehen.
Gerecke verweist zudem explizit auf die Ausführungen in Paragraf 132e SGB V: „In diesen Verträgen … sind insbesondere Regelungen zur vereinfachten Umsetzung der Durchführung von Schutzimpfungen, insbesondere durch die pauschale Bereitstellung von Impfstoffen, sowie Regelungen zur vereinfachten Abrechnung, insbesondere durch die Erstattung von Pauschalbeträgen oder anteilig nach den Versichertenzahlen (Umlageverfahren) vorzusehen“. Gesetzestexte seien das eine, die Realität das andere. „Tatsächlich verweigern sich die gesetzlichen Kassen aber diesen vereinfachten Verfahren“, mokiert sich Gerecke.
Lichtblicke in Thüringen
Kein Wunder also, dass vor allem überbetriebliche Dienste, aber auch selbstständige Betriebsärzte lieber Influenza-Vakzinierungen in Unternehmen vornähmen. Hier werde der Impfstoff teils werksseitig beschafft und privat liquidiert – nach unterschieldlichen Modellen, wie der Kopfpauschale oder dem Stundensatz. Auf jeden Fall trage hier der Arbeitgeber das Verwurfrisiko betreffs der georderten Vakzine.
Somit liege – zumindest was die Grippeschutzimpfung angehe – das tatsächliche Impfgeschehen in Unternehmen weit über den eingangs genannten Zahlen. Das sei ein Erfolg, wenn auch nicht nach den Regeln und dem Geiste des Präventionsgesetzes. Die Belegschaften würden zudem, so Gerecke auch regelhaft in puncto Impfstatus beraten – zumindest in größeren Unternehmen mit eigenem werksärztlichen Dienst.
Silke Kretzschmar, Vorsitzende des Bundesverbandes selbstständiger Arbeitsmediziner und freiberuflicher Betriebsärzte (BsAfB), will das via Präventionsgesetz geschaffene Impfangebot an der Werkbank nicht pauschal verdammen. Im Gegenteil: Es habe „für Lichtblicke gesorgt“, wie sie auf Nachfrage betont. Sie blickt dabei zurück auf ihre zwanzigjährige Tätigkeit als Arbeitsmedizinerin – davon seit 15 Jahren mit eigener Praxis in Gera niedergelassen.
„Nachdem die AOKplus als größte Kasse bei DGAUM-Selekt mitgemacht hatte, habe ich bei meinen Kunden auch begonnen, die Impfoption auf Kasse im Betrieb anzubieten. Die Resonanz ist besonders bei der Grippeschutzimpfung groß, die die Arbeitgeber – meist kleine und kleinste Unternehmen – bis dahin nicht als freiwillige Leistung auf eigene Kosten angeboten hatten“, resümiert Kretzschmar. Auch sei der bürokratische Aufwand für die Unternehmen zu hoch, sich die Kosten für die Influenza-Vakzinierung der Belegschaft bei den einzelnen Kassen der betreffenden Mitarbeiter erstatten zu lassen.
Positiver Effekt: Da die Impfung auf Kasse abgerechnet wird, können im Bedarfsfall gleich auch Mitarbeiter von Leihfirmen geimpft werden.
Insgesamt sei das Impfgeschäft für sie im Versorgungsalltag Nebensache, sagt Kretzschmar. Wirtschaftlich sei das Ganze zwar nicht wirklich, schließe aber mit Blick auf die schwindenden Hausärzte in der Region Impflücken.