Interview mit BVKJ-Chef

SARS-CoV-2 und Schule: „Kinder spielen eine Rolle, aber keine große“

Wie kann der Schulbetrieb bei steigenden Infektionszahlen aufrechterhalten werden? Mit einer Differenzierung nach Alter und einer Risikoadjustierung je nach der Höhe der Fallzahlen, schlägt BVKJ-Präsident Dr. Thomas Fischbach vor.

Ruth NeyVon Ruth Ney Veröffentlicht:
Maske tragen und trinken, das geht schwer zusammen. Wann und wo die Maske in der Schule zu tragen ist, ist unterschiedlich geregelt.

Maske tragen und trinken, das geht schwer zusammen. Wann und wo die Maske in der Schule zu tragen ist, ist unterschiedlich geregelt.

© Guido Kirchner/dpa

Ärzte Zeitung: Derzeit steigen die Infektionszahlen in Deutschland. Steigt damit nicht auch das Risiko, dass die Infektionen in die Schulen getragen werden?

Dr. Thomas Fischbach: Wir haben ja in unserer Stellungnahme klar gemacht, dass man eine transparente, öffentlich ausgetragene Diskussion braucht und sich im Klaren sein muss, dass unter Pandemiebedingungen dieses Virus nicht von heute auf morgen verschwinden wird. Deshalb wird es immer wieder neue Infektionen geben. Wichtig ist, dass man sie eingrenzen und beherrschen kann. Dass jetzt die Zahl der Neuinfektionen steigt, ist auch nicht verwunderlich. Wir testen ja viel mehr als wir das noch vor einigen Monaten getan haben. Denken Sie alleine einmal an die Reiserückkehrer-Testungen, wo ja nach Medienangaben 2,5 Prozent der Rückkehrer wohl positiv getestet worden sind, allerdings nur die Hälfte der Anspruchsberechtigten den Test wahrgenommen hat. Also das wundert eigentlich nicht. Und von daher muss man natürlich auch damit rechnen, dass es in den Schulen oder auch in den Kindertageseinrichtungen wieder Fälle geben wird. Das ist unvermeidlich.

Was sind denn jetzt – ganz kurz vielleicht zusammengefasst – die wichtigsten neuen Aspekte Ihrer Stellungnahme?

Zwei Dinge sind da besonders herauszuheben. Zum einen machen wir eine Altersdifferenzierung, weil wir wissen, durch inzwischen doch zahlreiche Studienergebnisse, dass es bei den Kindern und Jugendlichen unterschiedliche Infektionsraten gibt. Insbesondere bis zum Alter von etwa zehn Jahren ist die Fallzahl deutlich geringer, als es später wieder bei den Jugendlichen ist, die sich dann hinterher auch dem Erwachsenenniveau annähern. Und das Zweite, was wir fordern, ist eine Risikoadjustierung. Es macht einen Unterschied, ob ich eine Situation habe mit einer sehr niedrigen Fallzahl in einem Einzugsgebiet oder einer hohen. Und von daher ist es ein dynamisches System. Das heißt, eine neue Lage kann dazu führen, dass man nachjustieren muss und dass dann auch Empfehlungen geändert werden müssen. Das wird sich aber nicht vermeiden lassen.

Hat sich aufgrund dieser neuen Daten Ihre Einstellung zum Infektionsrisiko bei Kindern geändert?

Nein. Es gibt auch keinen Anlass davon abzuweichen, das tun wir auch nicht. Wir sind nach wie vor der Auffassung – und das ist ja auch belegbar –, dass eher die Erwachsenen die Träger des Virus sind. In der Presse lesen wir dauernd, dass in der Regel die Erzieherinnen und Erzieher oder eben die Lehrerinnen und Lehrer diejenigen sind, die die Infektion in Einrichtungen und Schulen tragen.

Die Virologen sagen, die initial angenommene minimale Rolle von Kindern müsse infrage gestellt werden.

Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben beziehungsweise die Autoren unseres Statements: Und nach der Literaturrecherche kann man ganz klar sagen, dass Kinder natürlich eine Rolle spielen, aber anders als etwa bei der Grippe keine große Rolle. Das sind die Älteren, die Jugendlichen und die Erwachsenen.

Eine große Debatte gilt derzeit der Maskenpflicht mit sehr unterschiedlicher Handhabung in den Bundesländern, die bereits mit der Schule wieder angefangen haben oder kurz davor stehen. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, der hat jetzt gerade geäußert, dass er eine Maskenpflicht im Klassenzimmer für unabdingbar hält, wenn der Unterricht in üblicher Weise stattfinden soll. Und auch die Virologen zum Beispiel plädieren für das konsequente Tragen von Alltagsmasken in allen Schuljahrgängen und auch während des Unterrichts. Ihr Verband setzt auf ein differenziertes Konzept. Im Unterricht müssten Schüler danach keine Masken tragen. Warum?

Die Ergebnisse und Erfolge aus anderen Ländern, etwa aus Dänemark, die ein sehr ausgeklügeltes Hygienekonzept in den Schulen eingeführt haben: regelmäßiges Händewaschen, Lüften, konstante Gruppen und konstantes Lehrpersonal, mit Draußen-Unterricht et cetera, und Abstand halten natürlich und ohne Maskenpflicht am Unterrichtsplatz. Diese Schulen sind jetzt schon viele Wochen wieder in Betrieb und es gibt keinen signifikanten Anstieg der Fallzahlen. Also wir glauben, dass es in der Regel nicht erforderlich ist, dass am Platz Masken getragen werden, wenn alle anderen Hygieneregeln eingehalten werden.

Und eine Maskenpflicht nur für Schüler, während die Lehrer, wenn sie meinen, sie halten den Abstand, keine Maske tragen müssen, erschließt sich mir schon mal gar nicht, gerade mit Bezug auf das, was ich eben gesagt habe, dass die Erwachsenen eher die Überträger der Viren sind. Stellen Sie sich mal einen Frontalunterricht in der Schule vor, das ist so ungefähr wie ein Kirchenchor. Wenn einer singt und die Viren dann munter verteilt. Das ist einfach unlogisch.

Wir haben jetzt keinen Grund, hier im Moment von dieser Position abzuweichen. Aber auch da gilt, was ich eben gesagt habe. Diese Situation muss man regional werten, immer wieder neu. Wie gesagt, es ist ein Unterschied, ob ich ganz wenige Fälle habe oder ob ich meinetwegen einen Hotspot habe, wo gerade eben besonders viele Infektionen sind. Und das ist leider Gottes in den Regelungen in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel überhaupt nicht berücksichtigt worden.

Dr. Thomas Fischbach vom BVKJ.

Kinderarzt Dr. Thomas Fischbach.

© BVKJ

Gerade bei den Masken oder in Verbindung mit dem Tragen von Masken werden relativ hohe Anforderungen gestellt, damit die richtig und hygienisch getragen werden. Da gibt es auch ausgearbeitete Hygienepläne. Umgekehrt sehe ich zum Beispiel meine eigenen Söhne vor Augen, die ihre Maske regelmäßig einfach in die Hosentasche stopfen und da weiß man ja tatsächlich nie, was sonst noch drinsteckt.

Wie hoch ist denn vor diesem Hintergrund das Risiko einer Keimbesiedlung der Masken? Denn ich kann mir schwer vorstellen, dass es gut kontrollierbar ist, dass sie regelmäßig gewaschen und ausgetauscht werden.

Ich habe dazu auch eigene Erfahrungen aus meiner Tätigkeit in der Praxis, wo ich natürlich den ganzen Tag über eine Maske trage. Gestern war ich noch dort. Und nach fünf Minuten ist meine Maske nass. Bei diesen Temperaturen ist das innerhalb kürzester Zeit geschehen, abgesehen davon, dass es schwer erträglich ist.

Aber es ist vor allen Dingen eben dann auch nicht mehr ausreichender Schutz da. Und so viele Masken, dass man die alle fünf bis zehn Minuten wechseln kann, stehen ja nirgendwo zur Verfügung. Das ist das eine.

Das andere, die Hygienevorschriften, wie man Masken tragen soll, sind ja illusorisch. Das lässt sich im praktischen Alltag in der Schule nicht durchsetzen. Schauen Sie doch mal, wenn Sie mit dem öffentlichen Personennahverkehr unterwegs sind, wie die Masken da getragen werden und wie sie aufgesetzt und abgesetzt werden. Das schaffen Erwachsene nicht, und das schaffen dann Kinder und Jugendliche schon mal gar nicht.

Das macht wenig Sinn, solche theoretischen Forderungen zu stellen, die man letztendlich überhaupt nicht realisieren kann. Das muss man einfach hier mal anmerken. Wichtiger sind aus meiner Sicht tatsächlich auch noch diese ganzen anderen Hygienevorschriften, die man ganz gut einüben kann, das Händewaschen beispielsweise, das regelmäßige Lüften. Es ist auch kein Argument zu sagen, es wird dann zu kalt. Dann kann man sich einen Pullover anziehen, das ist ja nicht das Problem.

Ich glaube tatsächlich, dass das ständige Tragen der Masken nicht durchsetzbar sein wird. Ich habe jetzt zudem dauernd Anfragen von Eltern, die sich darüber Sorgen machen. Das heißt, wir werden als Kinder- und Jugendärzte mit den Folgeproblemen konfrontiert, die durch solche Empfehlungen entstehen.

Dr. Thomas Fischbach

  • Aktuelle Position: Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ)
  • Ausbildung: von 1978 bis 1984 Studium der Humanmedizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; 1984 Approbation; 1985 Promotion
  • Karriere: 1985–1989 Weiterbildung zum Arzt für Anästhesiologie im Bundeswehrkrankenhaus Osnabrück, Bethesda- Krankenhaus Wuppertal; 1989 Facharzt für Anästhesiologie; 1990–1994 Weiterbildung zum Arzt für Kinder- und Jugendmedizin am städtischen Klinikum Solingen; 1994 Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin; seit 1994 niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in Solingen

Was sind das für Folgeprobleme, mit denen Sie konfrontiert werden?

Eine ganz, ganz häufige Bitte ist, wir sollen doch bitte ein Attest ausstellen, dass der Schüler, die Schülerin die Maske nicht tragen kann. Also gestern zum Beispiel, weil das Kind unter Migräne leidet. Dann gibt es natürlich sogar so verrückte Sachen, dass ich von der Geistig-Behinderten-Schule aufgefordert werde, ein Attest auszustellen, dass ein schwerst mehrfach behinderter Junge keine Maske tragen muss, was sich eigentlich, wenn man ihn vor sich sieht, von selbst ergibt, dass das nicht gehen kann. Also die Bürokratie, die damit verbunden ist, ist noch ein weiteres Thema, was uns große Sorgen bereitet.

Bürokratie ist das Stichwort auch beim Testen: Das ist ja reichlich unübersichtlich geworden. Wie sieht denn eine Teststrategie aus, wenn im Herbst auch noch die üblichen Erkältungserreger überall herumspuken und alles Schniefnasen hat?

Das kann eigentlich nur furchtbar werden. Wir haben schon frühzeitig drauf hingewiesen, dass das so nach den Empfehlungen des RKI kaum im Winter durchsetzbar sein wird, jeden, der eine Schiefnase hat, abzustreichen. Die Kapazitäten gibt es nicht, auch die Ergebnisse aus den Labors kommen dann verspätet, weil sie diesen Ansturm von Aufträgen kaum bewältigen werden.

Ein Formular-Wirrwarr ist es in der Tat, viele Dinge sind einfach ungeklärt oder zu spät geklärt worden, Honorierungsfragen zum Beispiel. Nehmen Sie mal das Thema Reiserückkehrer: All dies wird zwar mit großem Elan vom BMG in die Welt gesetzt, aber in der Umsetzung hapert es, weil die Bürokratieschritte sehr langsam nur vollzogen werden.

In den Praxen selber ist es durchaus auch uneinheitlich. Wenn Sie eine Praxis haben, die die Möglichkeit der Trennung der Patientenströme bietet – ich habe so eine Praxis mit Hintereingang und gesondertem Zimmer, wo man den Kontakt zwischen den Patienten verhindern kann –, dann kann man sicherlich auch Abstriche machen.

Wir haben eine ganze Menge gemacht in den letzten Monaten, circa 900, davon waren dann zwei positiv. Und das waren dann Kinder jeweils von Familien, wo der Vater schon positiv getestet war, die anderen waren alle negativ – nur so by the way.

Viele Kolleginnen und Kollegen können das aber in ihren Praxisstrukturen nicht leisten, weil sie einfach diese räumlichen und strukturellen Gegebenheiten nicht haben oder auch das Personal nicht. Das ist ja ein riesen Aufwand. Die Hygienerichtlinien, die sie ja schon in den Praxen einhalten müssen, absorbieren die Leistungsfähigkeit unserer MFA. Das ist vielen nicht bewusst.

Hat Ihr Berufsverband eine Idee, wie die Tests bei Schulkindern mit Blick auf die unterschiedlichen Altersgruppen vielleicht sinnvoll strukturiert werden können, damit das handhabbar ist?

Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass es Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes ist und nicht der Niedergelassenen. Wir haben keinen Plan A in der Tasche, der für alle gilt. Sie wissen, dass die Anforderungen auch in den einzelnen Bundesländern und sogar in den einzelnen Kreisen und Kommunen völlig unterschiedlich sind. Es gibt Regionen, wo jetzt Testzentren gegründet werden, die dann die Abstriche vornehmen, in anderen macht es doch im Wesentlichen der ÖGD. Und wiederum in anderen ist der ÖGD einfach personell nicht in der Lage, alle diese Untersuchungen durchzuführen und wendet sich dann an die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. Aber wie gesagt, die Struktur in den Praxen lässt nicht zu, dass wir allen Wünschen aus dem ÖGD nachkommen können. Und die unzureichende Honorierung tut den Rest.

In der Stellungnahme ist genauer erläutert, wann eine ambulante Testung auf SARS-CoV-2-Infektion erfolgen sollte. Aus Ihrer eigenen Erfahrung – passt das gut?

Sie haben natürlich immer eine Trennungsunschärfe. Es wird, nie gelingen, eine 100-prozentige Sicherheit hervorzurufen. Aber die in der Stellungnahme aufgeführten Möglichkeiten der Differenzierung halte ich für praktikabel und für verantwortbar.

Abschließend noch eine eher berufspolitische Frage: Viele Lehrer und Schulen fühlen sich derzeit alleingelassen bei der Risikobewertung und der Umsetzung der Hygienemaßnahmen – in der Stellungnahme der Pädiater wird auch explizit darauf verwiesen, dass nicht begründete Befürchtung des Personals vor Ansteckung durch sachlich fundierte, professionelle Aufklärung und Beratung adressiert werden sollen. Sehen da auch unter Umständen Ihren eigenen Berufsverband in einer gewissen Pflicht? Sollte er sich also aktiv einbringen?

Wir tun es ja. Jetzt zum Beispiel auch in der Stellungnahme. Damit versuchen wir, auch den Lehrerinnen und Lehrern und den Erzieherinnen und Erziehern ein bisschen auch die Angst zu nehmen. Die Diskussion nehme ich durchaus sehr angstgesteuert wahr. Aber da komme ich zu einer meiner ersten Aussagen: Wir können natürlich niemandem garantieren, dass er nicht erkranken kann. Aber das kann er genauso gut im Supermarkt, im Bus, im Einzelhandel oder im Restaurant. Ein Null-Risiko gibt es nicht. Aber man kann sich schützen, indem man konsequent, sinnvolle Hygieneregeln einhält und auch darauf achtet, dass es die Schülerinnen und Schüler tun – da sind die durchaus lernfähig. Das kann man sogar schon bei Kindergartenkindern im spielerischen Rahmen schaffen. Und viele Einrichtungen schaffen das ja auch.

Mit Blick in die Zukunft: Könnten Sie sich vorstellen, dass Kinder- und Jugendmediziner vielleicht irgendwann ein fester Bestandteil eines Ausbruchsmanagements werden, zusammen mit dem örtlichen Gesundheitsamt, um dann Themen wie Kurzzeitquarantäne, Nachtesten oder komplette Schulschließungen zu besprechen?

Es ist ein bisschen aus dem Blick geraten, dass wir durchaus schon vor Corona Leistungseinschränkungen hatten, weil wir einfach zu wenig Nachwuchs bekommen, zu wenig vollzeittätige Kolleginnen und Kollegen, zu wenig in eigener Praxis arbeitende Kolleginnen und Kollegen. Dies alles hat uns schon längst an die Grenzen der Möglichkeiten geführt. Die meisten Praxen haben einfach keine Kapazitäten für solche Aufgaben. Und es rächt sich hier ganz deutlich, das Kaputtsparen des öffentlichen Gesundheitsdienstes in der Vergangenheit. Da muss man gegensteuern. Hier muss man – und zwar sehr zügig – eine bessere personelle Struktur schaffen. Ich glaube nicht, dass die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen hier öffentliche Gesundheitsaufgaben wahrnehmen können und sollen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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