Leitartikel

Wie Unsicherheit in der Corona-Krise hilft

Die verstärkten Corona-Warnungen scheinen immer seltener anzukommen – die Bevölkerung zeigt sich erschöpft. Jeder neue Alarm erinnert schließlich daran, dass niemand weiß, ob beim Bäcker, in der U-Bahn oder beim Familienbesuch Infizierte sind. Es lohnt sich aber, diese Unsicherheit bewusst schätzen zu lernen.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Auch in der Coronavirus--Pandemie gilt es, die Unsicherheit zu schätzen: Sie hilft, die allgegenwärtige Diskussion um den zweiten Lockdown offen und kreativ zu halten.

Auch in der Coronavirus--Pandemie gilt es, die Unsicherheit zu schätzen: Sie hilft, die allgegenwärtige Diskussion um den zweiten Lockdown offen und kreativ zu halten.

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Neu-Isenburg. Die zweite Welle der positiven Corona-Tests ist da und schwappt über das Land hinweg. Trotz tiefroter Grafiken des Robert Koch-Instituts und vieler Warnungen scheint eine große Sorglosigkeit eingezogen zu sein, denn die Infektionszahlen steigen und steigen.

Das Maßnahmen-Paket der Bundesregierung soll nun die Entwicklung bremsen. Zieht die Bevölkerung mit? Um der Sorglosigkeit ebenso wenig zu vertrauen wie der Hysterie, hilft nur eines: Vertrauen in die Ungewissheit.

Die Lage sei ernst und werde immer ernster, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bereits nach der Konferenz der Ministerpräsidenten. Das Coronavirus habe nichts von seiner Gefährlichkeit verloren und werde eher noch schlimmer, so Söder. Wenn man nicht neue und wirksame Maßnahmen umsetze, verliere man den Vorsprung, den Deutschland vor anderen Ländern in der Pandemiebekämpfung habe, erklärte auch der SPD-Gesundheitsexperte Professor Karl Lauterbach.

Seit Monaten wird er nicht müde, vor Corona und den Folgen zu warnen. „Die Lage befindet sich am Scheidepunkt“, so Lauterbach in einem Fernsehinterview. „Jetzt müssen wir entscheiden, ob wir den Kopf in den Sand stecken, oder ob wir handeln so schnell, wie wir können.“

Der Ton wird schärfer

Kürzlich hat Lauterbach sogar gefordert, dass Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt zurücktreten soll, weil er den Nutzen von Gesichtsmasken gegen die Corona-Infektion in Frage gestellt hat. Was soll das bedeuten? Wer muckst, fliegt raus? Der Ton wird schärfer. Und auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen appellierte: „Jetzt ist nicht die Zeit, locker zu lassen!“

Aber so wie es aussieht, scheinen die verstärkten Warnungen immer seltener zu verfangen. Mehr noch: Je deutlicher gewarnt wird, umso größer scheint die Gewöhnung. Nicht umsonst ist die Menge der täglich positiv Getesteten derzeit fast an der 20.000-Marke angelangt.

Kurz: Die Bevölkerung zeigt sich erschöpft. Jede neue Warnung erscheint ihr als unbequeme Störung. Jeder neue Alarm ruft in Erinnerung, dass angesichts der vielen positiv getesteten täglich die Unsicherheit ein Fakt ist.

Denn niemand weiß, ob beim Bäcker, auf der Straße, in der U-Bahn oder unter dem Familienbesuch Infizierte sind, die mich anstecken könnten. Niemand weiß, ob Lauterbachs warnende Worte am Ende ins Schwarze getroffen haben oder nicht.

Die Psyche will Sicherheit

Und ob der neuerliche Lockdown die Lage beruhigen wird, ist ebenso unklar, wie die Frage, ob es dem Land ohne einen zweiten Lockdown auf Dauer besser gehen würde. Nichts Genaues weiß man nicht. Kein Wunder, dass viele da lieber weghören.

Die Psyche scheint einen Hang zur Sicherheit zu haben. Sie möchte ungestört bleiben. Sie möchte sich nicht ständig mit einer fundamentalen Verunsicherung durch die Warnungen oder durch die Infektionsgefahr konfrontiert werden. Deshalb dringen die Appelle immer weniger durch. Unsicherheit ist eben schwer zu ertragen.

Der Risikoforscher Professor Gerd Gigerenzer empfiehlt gleichwohl, sich in Krisen der Unsicherheit zu stellen und sich mit ihr zu arrangieren. Allein schon, weil Unsicherheit der Normalzustand ist. Eine Sicherheit gibt es nicht. Auch die Wissenschaft dürfe ja nicht die Illusion von Sicherheit erzeugen, sondern müsse stattdessen Wissen schaffen, so Gigerenzer.

Wenn es Sicherheit gäbe, wäre das Leben ohnedies langweilig. Wenn es Sicherheit gäbe, gäbe es keine Hoffnung, keine Überraschungen, es bräuchte kein Vertrauen. Und worüber sollte man sich noch freuen, wenn man alles schon hat kommen sehen?

Die Unsicherheit hält wach

Es lohnt sich also, Unsicherheit bewusst schätzen zu lernen. Sie hält wach. Sie interessiert sich. Sie fragt nach und regt zum Gespräch an, auch wenn sie manchmal Angst macht. Sie hilft, die allgegenwärtige Diskussion um den zweiten Lockdown offen und kreativ zu halten. Sie hat die Kraft, allzu aufgeregte Diskussionen um den teilweisen Lockdown auf ein menschliches Maß zu stutzen.

Wer sie aber nicht wagt, sitzt in der Klemme und muss sicherere Lösungen suchen. Er muss alle warnenden Worte zum Thema Corona-Pandemie für die letzte Gewissheit halten oder für Unfug.

Aber Politiker müssen doch entscheiden oder nicht? Ja. Und vielleicht hat ihnen die Unsicherheit eingegeben, dass keine Lösung für die Ewigkeit gilt. Diese Einsicht könnte dazu geführt haben, dass der zweite Lockdown auf vier Wochen befristet wurde. Es lohnt sich vielleicht, bewusst aus einer Ungewissheit heraus zu handeln.

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