Arzneimittel

Verordnungssteuerung mit Fragezeichen

Wirkstoffquoten statt Budgets: In der regionalen Verordnungssteuerung zeichnet sich ein Systemwechsel ab. Doch an der einen oder anderen Stelle droht die neue Listen-Medizin übers Ziel hinauszuschießen.

Christoph WinnatVon Christoph Winnat Veröffentlicht:

DÜSSELDORF/BERLIN. Ab 2017, so sieht es das Versorgungsstärkungsgesetz vor, soll die Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Verordnung anhand regionale Vereinbarungen geprüft werden. Damit eröffnet sich ein weiter Spielraum der Verordnungssteuerung: An die Stelle der ungeliebten Richtgrößen – mit denen lediglich die vom Arzt veranlassten Kosten auf ein Fachgruppenbudget hin gepolt werden – treten in vielen KVen jetzt mehr oder weniger weit gefasste Wirkstoffvorgaben. Als erste KV hat das konsequent Bayern umgesetzt und Richtgrößen durch fachgruppenspezifische Generika- und Leitsubstanzziele ersetzt. Vielfach werden Richtgrößen aber auch beibehalten und fungieren als ultima ratio im Hintergrund, wenn bestimmte wirkstoffbezogene Quoten nicht erreicht werden.

Dieser grundsätzliche Switch der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung – von der Budget-Kontrolle zur Wirkstoffvorgabe – ist freilich nicht in jedem Fall völlig unkritisch, wie ein Gutachten des Düsseldorfer Medizinrechtlers Dr. Christian Stallberg nahelegt. Auftraggeber war der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH), Gegenstand der Untersuchung der Medikationskatalog der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dessen regionale Anwendung.

Bewertung ohne Begründung

Ursprünglich hatte die KBV den Medikationskatalog im Vorfeld des Modellprojekts "ARMIN" entwickelt. Dabei werden Verordnungsempfehlungen zu 22 Indikationen gegeben und Wirkstoffe nach einem Ampelsystem unterschieden in "Standard", "Reserve" sowie "nachrangig zu verordnen". Die Kategorisierung erfolgt laut KBV "auf der Basis einer ausführlichen Recherche und Analyse unter anderem von Leitlinien, Cochrane Reviews, Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und Abschlussberichten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen". Zusätzlich würden auch Beschlüsse des GBA im Rahmen der frühen Nutzenbewertung sowie andere GBA-Therapiehinweise, die PRISCUS-Liste und Rote-Hand-Briefe des BfArM in die Ampel-Klassifizierung einfließen.

Inzwischen ist der Medikationskatalog nicht mehr nur dem in Sachsen und Thüringen laufenden "ARMIN"-Projekt unterlegt, sondern in mehreren KV-Bezirken auch Grundlage der Quotenbildung im Rahmen der reformierten Wirtschaftlichkeitsprüfung. Wie Rechtsanwalt Stallberg berichtet, ist das in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen der Fall. Auch in Nordrhein, wo sich die Selbstverwaltung bislang noch nicht auf eine neue Prüfvereinbarung hat einigen können, ist beabsichtigt, zur Verordnungssteuerung auf dem KBV-Medikationskatalog aufzusetzen. So jedenfalls kündigte es Ende Januar die KVNo an. Laut Stallbergs Gutachten ist der Medikationskatalog gleich in mehrfacher Hinsicht rechtlich angreifbar. Einwände ließen sich in verfahrensrechtlicher und legitimatorischer Perspektive erheben:

» So etwa seien die KVen sozialgesetzlich zwar durchaus befugt, Verordnungsinformationen und Nutzenhinweise zu geben (siehe § 73 Abs. 8 SGB V). Wenn dabei jedoch Empfehlungen in ein Bewertungskorsett wie die oben angeführte Ampelsystematik gepresst werden, unterliege die KBV einer "materiellen Begründungspflicht", die erkennen lässt, "wie die herangezogene Evidenz und die jeweils angeführten Quellen ausgewählt, gesichtet, und miteinander ‚verrechnet‘ wurden", heißt es in dem Rechtsgutachten. Nähere methodische Einzelheiten zu ihrer Wirkstoff-Eingruppierung habe die KBV bis dato aber nicht bekannt gegeben. Damit verstoße sie möglicherweise gegen die europäische Transparenzrichtlinie (89/105/EWG). Die Richtlinie sieht beispielsweise vor, dass bei Aufnahme von Arzneimitteln in eine Liste nicht zu Lasten öffentlicher Gesundheitsdienste verordnungsfähiger Präparate eine Begründung nach "objektiven und überprüfbaren Kriterien" zu erfolgen hat.

» Zudem gehe die KBV auch gegen die sozialrechtliche Befugnis, über Wirtschaftlichkeit und Nutzen von Arzneimitteln zu informieren, hinaus. Sie dürfe zwar "über den fremdbewerteten Nutzen informieren, nicht jedoch eigene Nutzenbewertungen durchführen", heißt es in dem Rechtsgutachten weiter. Das gelte insbesondere für Einschätzungen, die ein bereits der frühen Nutzenbewertung des GBA unterzogenes Produkt "nochmals oder gar abweichend" bewerten. Nach derzeitigem Kenntnisstand seien "aber auch vom GBA nutzenbewertete und preisregulierte Arzneimittel Gegenstand des Medikationskatalogs". Und dabei würden sogar Präparate, denen der GBA einen Zusatznutzen attestiert habe, "teilweise als ‚nachrangig‘ eingestuft". Spätestens hier, schreibt Stallberg, sei die eigenmächtige Produkt-Eingruppierung der KBV unzulässig.

» Auch missachte die KBV die inhaltlichen Vorgaben, die das SGB V in § 73 Abs. 8 macht, dass nämlich wie es dort wörtlich heißt "zur Sicherung der wirtschaftlichen Verordnungsweise" auch über "Preise und Entgelte zu informieren" sei. Demnach, schlussfolgert Stallberg, dürfte es nicht zulässig sein, wenn den Ärzten ein Ampelsystem zur wirtschaftlichen Verordnungsweise ans Herz gelegt wird, ohne das darin "über eine geltende Preisregulierung, wie Festbeträge oder Erstattungsbeträge, informiert wird".

Willkürliche Mengenziele?

Darüber hinaus bietet aber nicht nur der KBV-Medikationskatalog etliche offene Flanken. Stallbergs Gutachten widmet sich auch dessen Anwendung in Form einer Grundlage für prüfungsrelevante Verordnungsquoten. Was de facto zugleich andere regionale Quoten-Vereinbarungen betrifft, die nicht ausdrücklich auf dem KBV-Medikationskatalog aufsetzen. Bei der Festlegung prüfungsrelevanter Verordnungsziele kommt erneut die Transparenzrichtlinie ins Spiel:

» So müssten eben nicht nur Wirkstoffempfehlungen, sondern auch Verordnungsquoten an "objektiven und überprüfbaren Kriterien" begründet werden. Der Spielraum für allzu große Abweichungen vom bisherigen Verordnungsdurchschnitt sei begrenzt, argumentiert Stallberg. "Denn eine solche Abweichung impliziert, dass das bisherige Verordnungsverhalten im Umfang der Abweichung nicht wirtschaftlich gewesen ist". Will heißen: Je größer die Abweichung einer Quote vom bisherigen Mengenschnitt, desto willkürlicher erscheint ihre Festlegung und umso strenger dürften deshalb "hier die Begründungsanforderungen sein".

» Bei der Festlegung von Wirkstoffquoten auf Basis des KBV-Katalogs sei außerdem darauf zu achten, dass Ärzte nicht Gefahr liefen, trotz medizinisch zweckmäßiger und nach bisherigem Verständnis auch wirtschaftlicher Verordnung, "die Quoten für Standard- und Reservewirkstoffe nicht einhalten zu können und deswegen in die Wirtschaftlichkeitsprüfung zu geraten". Das widerspräche dem allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebot des Paragrafen 12 SGB V ("Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein").

» Und schließlich dürften nach Ansicht Stallbergs auch Arzneimittel, für die Hersteller und GKV-Spitzenverband einen Erstattungsbetrag vereinbart haben, nicht einer prüfungsrelevanten Quotierung unterworfen werden. Mit der Preisvereinbarung seien die Kosten für solche Produkte "auf abstrakt-genereller Ebene als wirtschaftlich anzusehen". Sie könnten dann nicht auf untergeordneter Selbstverwaltungsebene wieder als unwirtschaftlich deklariert werden.

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