Tanz als Medizin
Mit Schwung gegen Altersbeschwerden
Gut für die Kondition, für Psyche und Gedächtnis: Tanzen kann, vor allem für ältere Menschen, mehr sein als nur ein Ausdruck von Lebensfreude.
Veröffentlicht:DRESDEN. "Öffnen, schließen, ausbreiten, einengen": Die amerikanische Tänzerin und Tanzlehrerin Jenny Coogan gibt ihre Anweisungen nicht im Kommandoton. Es ist eher ein Plaudern mit Schülern - die älter sind als sie selbst.
Coogan ist Professorin für Zeitgenössischen Tanz an der Staatlichen Palucca Kunsthochschule in Dresden. Jeden Montag trainiert sie hier ältere Tänzer. Die Company hat sich selbstironisch ArtRose genannt. Der Name ist zugleich präventives Programm. Zehn Frauen und ein Mann gehören zum festen Stamm. Eine Altersgrenze gibt es zumindest nach oben nicht.
Auch beim internationalen Kongress für Tanzmedizin, der am Wochenende an der Palucca Hochschule für Tanz stattgefunden hat, waren die ArtRose-Mitglieder präsent und tanzten für Gäste aus ganz Europa.
Im Mittelpunkt des Kongresses standen die gesundheitsfördernden Aspekte des Tanzes und die medizinische Betreuung von Tänzern. Neben Medizinern kamen auch Pädagogen, Ernährungswissenschaftler und Psychologen. "In each other`s track" ("In den Spuren des anderen") heißt das Stück, das die Truppe den Kongressteilnehmern präsentierte - mit viel Raum für Improvisation.
Bewegungsarmut hat Folgen
So wie immer, wenn die ArtRosen tanzen. Schon beim Aufwärmen wird viel gelacht. "Wie ist es, wenn man seine Beine nicht sieht", fragt Coogan in die Runde: "Wie fühlt es sich an, wenn man einen anderen oder neuen Weg gefunden hat? Erlaubt Euch, Euch selbst zu spüren." Die Tänzerinnen fügen sich zu Paaren zusammen. Mittendrin: Coogan und die Studentin Anna Stegner.
Dass viel Bewegung bis ins hohe Alter gut für die Gesundheit ist, gehört zu den Binsenweisheiten. Dennoch ziehen viele Menschen - entgegen dem ärztlichen Rat - den Platz auf dem Sofa vor. Die Bewegungsarmut in der modernen Gesellschaft hat Folgen. Adipositas, Arthrose und anderen Abnutzungserscheinungen - ihnen allen muss mit regelmäßiger Bewegung begegnet werden.
Die Dresdner Tänzer über 60 berichten denn auch übereinstimmend, dass sich ihr körperliches Befinden durch das Tanzen verbessert hat. "Manchmal tun mir schon die Glieder weh. Aber nach dem Warm-up ist alles wie weggeblasen", sagt Werner Koch.
Mit 82 Jahren ist der gelernte Kaufmann und Gastronom der Älteste in der Company. Koch kann für sich auch den Titel Solist beanspruchen - er ist der einzige Mann im Ensemble und findet das schade. Er habe Freunde zum Mitmachen ermuntert, aber alle hätten abgewunken: "Für die meisten ist das nicht männlich."
Nur beim ersten Training sei noch ein anderer Herr dabeigewesen: "Er hat schon nach dem Aufwärmen das Handtuch geworfen." Koch, der einen Herzinfarkt hinter sich hat, spricht von "unglaublicher Lebensfreude", wenn er vom Tanzen erzählt.
Nicht anders geht es Renate Merker, die mit 63 Jahren zu den jüngsten der Gruppe gehört. Die Professorin für Elektrotechnik an der Technischen Universität in Dresden hält Tanzen auch für die Psyche wichtig: "Wir sind in der Lage, unser Innerstes auszudrücken."
Mit Tanzen Traumata bewältigen
Auf diese Weise ließen sich auch Traumata und Seelenzustände bewältigen: "Jeder hat die Fähigkeit zum Tanzen in sich, da muss man weder besonders trainiert noch ausgebildet sein. Tanz ist für mich ein Teil meines Lebens geworden." Ganz nebenbei hält die Professorin den Tanz für ein gutes Gedächtnistraining. Schließlich müsse man ganz ordentlich Schrittfolgen auswendig lernen.
Anna Stegner tanzt bei ArtRose mit, obwohl sie das Durchschnittsalter erheblich unterschreitet. Die 24-Jährige absolviert an der Palucca Hochschule derzeit ihr viertes Studienjahr im Fach Tanzpädagogik. Dass die Interaktion in der Gruppe eine ganz besondere ist, findet sie faszinierend: "Es geht nicht um Leistung. Mir gefällt vielmehr der rege Austausch mit vielen Persönlichkeiten. Denn jeder bringt hier eine Lebenserfahrung ein, die ich selbst noch nicht habe."
Auf diese Weise könne jeder sein Leben in den Stücken "vertanzen". Stegner ist überzeugt davon, dass der Tanz zu den besten Lebenselixieren gehört.
Als sie nach einem Jahr Auslandsaufenthalt wieder zu ArtRose kam, hat sie an allen Mitgliedern eine frappierende Veränderung wahrgenommen: "Sie haben sich viel sicherer bewegt und hatten auch viel mehr Selbstbewusstsein." Die Bewegung in der Gemeinschaft habe offensichtlich auch positive Auswirkungen auf die mentale Stärke.
Stegner findet es schade, dass eine Gesellschaft wie die deutsche viel zu sehr auf den Leistungsgedanken "jung, dynamisch und erfolgreich" fixiert ist. Dabei sei die Erfahrung und das Können der Älteren ein unschätzbarer Wert.
Es geht nicht darum, wie hoch man das Bein bekommt
Jenny Coogan hatte die Gruppe 2011 zusammengestellt, weil sie ihre Mutter zum 80. Geburtstag mit einer Choreografie überraschen wollte. Alle, die sie ansprach, hätten geantwortet: "Aber wir können doch gar nicht tanzen." Natürlich wusste Coogan es besser. Als die Premiere vorbei war, hätten die Mitwirkenden auf einem Weitermachen bestanden.
Coogan, die sich der Lernmethode von Moshé Feldenkrais verbunden fühlt, hat im Laufe der Jahre eine erhebliche Entwicklung an ihren Schützlingen wahrgenommen: "Es geht ja nicht darum, wie hoch man das Bein bekommt, sondern um die Art des Ausdruckes. Es geht um das eigene Erlebnis und nicht, wie etwas im Spiegel aussieht."
Jetzt, fünf Jahre nach Gründung von ArtRose, seien die Beteiligten in ihren Bewegungen vielfältiger, erzählt Coogan: "Sie trauen sich viel mehr zu. Die ganze Community hat sich entwickelt." Die Arbeit mit den Älteren habe sie aber auch selbst sehr bereichert: "Aus dieser Gruppe gehe ich jedes Mal mit Lebensfreude heraus."
Inzwischen ist ArtRose sogar Teil einer wissenschaftlichen Arbeit von Coogan geworden. Die Chefin beschreibt das Projekt als basisdemokratisches Unternehmen: "Wir entscheiden alles im Kollektiv." Auch darin unterscheidet man sich von einer gewöhnlichen Company. (dpa)