Hausärztin im Interview
15 Jahre DMP: "Die Geschichte hat uns Recht gegeben"
Vor 15 Jahren war sie als Projektleiterin an der Entwicklung der Disease-Management-Programme beteiligt, heute setzt sie die DMP als niedergelassene Ärztin um. Im Interview erklärt Gabriele Müller de Cornejo, warum sie sich ihre Hausarztpraxis ohne DMP nicht mehr vorstellen kann.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Welche Herausforderungen gab es bei der Einführung der DMP?
Gabriele Müller de Cornejo: Vor allem die Hausarztmedizin sah vor 15 Jahren noch völlig anders aus als heute. Kontakte zwischen Arzt und Patient fanden meist anlassbezogen und bei akuten Beschwerden statt. Eine vorausschauende und kontinuierliche Betreuung chronisch Kranker war nicht die Regel. Unter Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wurde dann entschieden, dass der Behandlung von chronisch Kranken viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Denn zahlreiche Studien belegten, dass sich durch eine geführte Behandlung mit vorausschauender Betreuung bessere Ergebnisse hinsichtlich des Outcomes erzielen ließen. Die evidenzbasierte Medizin war aber noch nicht in den Köpfen der praktizierenden Ärzte verankert. Heute fragt jeder gleich nach der Studienlage – das war damals nicht so.
Wie lief denn die Entwicklung der Programme damals konkret ab?
Das Konzept wurde bei der AOK durch ein Team von etwa 60 Personen entwickelt. Das dauerte nur wenige Monate und war extrem arbeitsaufwändig. Denn wie die DMP konkret aussehen sollten, war zu Anfang völlig offen – es gab ja nichts dergleichen. Wir saßen also vor einem leeren Blatt und mussten sämtliche Inhalte und Prozesse ganz neu definieren. Aber wir haben uns von Anfang an eng mit Ärztevertretern ausgetauscht und diese in die Entwicklung einbezogen, um sie möglichst praxistauglich zu machen.
Der Druck, die Programme schnell einzuführen, beruhte ja auch auf ökonomischen Interessen ...
In der Tat erhielten die Krankenkassen für eingeschriebene Patienten bis Ende 2008 mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich. Das hat den Druck für die Krankenkassen erhöht, die Programme schnell auszurollen. Unsere Arbeitsgruppe hat sich damals aber nicht nur an diesem ökonomischen Anreizen, sondern vor allem an der Sinnhaftigkeit und Machbarkeit der Programme orientiert. Die neuen Programme sollten Nutzen für Patienten und Ärzte stiften. Uns ging es wirklich um bessere Versorgung. Und wir waren felsenfest davon überzeugt, dass wir unser Gesundheitssystem damit ein Stück weit in die Zukunft katapultierten – mit den solidarischen Werten, die wir haben.
Wie reagierten die Ärzte auf die neuen Programme?
Die Diskussion lief damals zum Teil sehr polemisch und wurde von einigen Fachgesellschaften mit Verflechtungen zur Pharmaindustrie auch bewusst angeheizt. Aus heutiger Sicht ist das eher zum Schmunzeln. In den Köpfen der Ärzte ist längst verankert, dass Leitlinien und evidenzbasierte Medizin im ärztlichen Alltag hilfreich sind.
Was waren denn konkret die Kritikpunkte der Ärzte?
Es gab viel Unverständnis und heftigen Widerstand, weil die DMP gerade in der Diabetes-Behandlung als großer Eingriff in die Therapiefreiheit erlebt wurden. Im DMP Diabetes sollten ja vorrangig Medikamente mit erwiesener Evidenz verordnet werden – das war schon ein Schock für Teile der Ärzteschaft. Für die Wirksamkeit einiger neuer Medikamente wie Piaglitazon, die damals neu auf den Markt kamen und heute kaum noch eine Rolle spielen, gab es halt keine Endpunktstudien und die Formulierung "sollen vorrangig verordnet werden" schürte viele Ängste. Aber weil die Initiative zu den DMP von den Krankenkassen ausging, wurden die Programme von vielen Ärzten als Sparmaßnahme gedeutet. Die evidenzbasierte Medizin zeigte auch, dass sich die Ergebnisse für die Patienten nicht verbessern, wenn die Blutzuckerwerte immer weiter gesenkt werden. Das war aber damals noch die Auffassung der Diabetologen: Je niedriger, desto besser. Die Geschichte hat uns an diesem Punkt Recht gegeben.
Wie sieht es aus Ihrer Sicht heute mit der Akzeptanz der DMP aus?
Die Praxen, die ich kenne, machen eigentlich alle mit – mehr oder weniger intensiv. Es gibt aber immer noch Ärzte, denen die Bürokratie zu viel ist oder die Kontrolle der Krankenkassen in ihre Therapiefreiheit fürchten. Manche Kollegen schreiben auch nicht alle Patienten ein. Ich selbst kann mir überhaupt nicht mehr vorstellen, eine Hausarztpraxis ohne diese Programme zu führen. Ich habe über 400 Patienten in die DMP eingeschrieben und empfinde es als extrem hilfreich, diese Patienten regelmäßig wegen ihrer Erkrankung zu sehen. Auch in den Köpfen meines Teams ist es drin, dass es da ein bestimmtes Raster für die Versorgung dieser Patienten gibt. Bei Privatpatienten mit Diabetes, für die es keine DMP gibt, passiert es mir immer wieder, dass ich sie zwei Jahre lang nicht sehe – und dann stehen sie auf einmal mit katastrophal schlechten Werten vor mir.
Sie haben aktuell an mehreren Leitfäden der AOK für DMP-Praxen mitgearbeitet. Worum geht es da?
Es geht darum, insbesondere den Mitarbeiterinnen des Praxisteams eine Hilfestellung bei der richtigen Umsetzung der Programme zu geben. So sind zum Beispiel alle vorgesehenen Untersuchungen und Überweisungen in den verschiedenen DMP übersichtlich zusammengefasst. Außerdem enthalten die Leitfäden ganz einfache Tipps für das Praxisteam.
Delegieren Sie denn viele DMP-Aufgaben an Ihr Team?
Ja, ich habe eine Sprechzimmer-Assistenz, die die Patienten vor- und nachbereitet: Gab es Besonderheiten seit dem letzten DMP-Termin? Welche Untersuchungen stehen aktuell an? Solche Fragen sind dann schon beantwortet. Die Assistenz misst auch den Blutdruck und führt zum Beispiel Lungenfunktions-Tests durch.
Wo sehen Sie noch Verbesserungspotenzial bei den DMP?
Das DMP COPD funktioniert aus meiner Sicht nicht ganz so gut, weil diese Erkrankung unterdiagnostiziert ist – auch bei mir. Die Inhalte des Programms sind gut. Aber die COPD-Patienten kommen einfach nicht von sich aus in die Praxis, weil sie lange keinen Leidensdruck haben. Nach der Erstellung des Leitfadens achte ich noch mehr darauf, ob ich wirklich jeden Patienten nach seinem Zigarettenkonsum frage und dann auch eine Lungenfunktion mache, wenn es Anzeichen für eine COPD gibt.
Wie ist denn Ihre Meinung zu den geplanten neuen DMP?
Ein DMP Depression würde ich für sehr sinnvoll halten. Es ist ja zum Beispiel ein Riesen-Problem, Psychotherapie-Plätze für betroffene Patienten zu finden. Ich bin sehr neugierig, was da an Inhalten kommen wird. Auch ein DMP Rückenschmerz finde ich spannend, denn Rückenschmerz- Patienten sehe ich noch öfter als Diabetiker. Allerdings dürfte bei diesem Thema eher die Überdiagnostik das Problem sein – und die Frage, nach welchen Kriterien die Patienten überhaupt in ein solches Programm eingeschrieben werden. Auch diesbezüglich bin ich sehr gespannt.
Gabriele Müller de Cornejo
» ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und Innere Medizin
» Von 1996-1998 war sie Assistenzärztin in der Diabetesambulanz der Uniklinikums Bonn
» 1998 bis 2004 Tätigkeit als Ärztin beim AOK-Bundesverband in Bonn, seit 2002 als verantwortliche DMP-Projektleiterin
» 2004 bis 2005 Ressortleiterin Patienteninformation beim Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln
» 2005 bis 2007 Leitende Ärztin beim Hausärzteverband in Köln
» Seit April 2007 niedergelassen in Bruttig-Fankel
» Mitglied im Vorstand des Hausärzteverbandes Rheinland-Pfalz und in der Vertreterversammlung der KV Rheinland-Pfalz