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Interview

BVF-Vorstand: Vielen Patientinnen fehlt das Wissen über ihren Körper

Dr. Cornelia Hösemann, Vorstandsmitglied im Berufsverband der Frauenärzte (BVF), über den Wunsch junger Frauen nach hormonfreier Verhütung und gefährliches Halbwissen aus Social-Media-Kanälen.

Von Frank Brunner Veröffentlicht:
„Im Vergleich zu früher benötigen wir deutlich mehr Zeit bei der ausführlichen Beratung der Patientinnen – auch, um hier Sorgen und Unsicherheit zu nehmen“, sagt Dr. Cornelia Hösemann, Vorstandsmitglied im Berufsverband der Frauenärzte (BVF).

„Im Vergleich zu früher benötigen wir deutlich mehr Zeit bei der ausführlichen Beratung der Patientinnen – auch, um hier Sorgen und Unsicherheit zu nehmen“, sagt Dr. Cornelia Hösemann, Vorstandsmitglied im Berufsverband der Frauenärzte (BVF).

© Privat

Ärzte Zeitung: Frau Dr. Hösemann, ihr Verband diagnostiziert eine Entwicklung zur hormonfreien Verhütung, besonders bei jungen Patieninnen. Es werde sich zunehmend auf Temperaturmessungen oder Zyklus-Apps verlassen. Wie erleben Sie diesen Trend?

Dr. Cornelia Hösemann: Ich erlebe oft eine diffuse Skepsis gegenüber Hormonen, begleitet vom fast schon „naturverliebten Wunsch“ nach alternativen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung.

Was ist daran problematisch?

Vielen Patientinnen fehlt tiefergehendes Wissen über ihren Körper und den Zyklus. Ihr Motto: Hauptsache „hormonfrei“. Dass aber auch vom Körper Hormone gebildet werden, und sich deren Wirkung nicht einfach ausschalten lässt, verwundert manche Mädchen, aber auch erwachsene Frauen.

Woraus resultiert diese Unkenntnis?

Ein Grund sind die vielen Berichte in sozialen Medien über hormonelle Empfängnisverhütung. Reichweitenstarke Influencerinnen präsentieren auf Instagram, YouTube, oder TikTok individuelle Schilderungen – und fast immer sind das Negativerlebnisse. Nur: Diese Erfahrungen sind nicht auf alle Frauen übertragbar. Ich merke, dass es manchen Patientinnen sehr schwerfällt, evidenzbasierte Informationen von persönlichen Wahrnehmungen Dritter zu trennen.

Warum ist das so?

Emotionale Geschichten aus der Peergroup genießen hohe Glaubwürdigkeit. Beispielsweise Empfehlungen von Freundinnen, die ihr Wissen beispielsweise wiederum von Influencerinnen beziehen. Auf einigen Kanälen wird jede Menge Halbwissen oder gar Falschinformationen verbreitet.

Wie reagieren Sie darauf?

Ich nehme Bedenken immer ernst, möchte jedoch gleichzeitig die unterschiedlichen Möglichkeiten der hormonellen und nicht-hormonellen Verhütung erklären. Wenn klar widersprüchliche Aussagen im Beratungsgespräch geschildert werden, liefere ich die Fakten.

Mit Fakten gegen Emotionen – klingt nach einer Sisyphosaufgabe.

Ganz wichtig ist, dass Patientinnen wissen, sie können sich in jedem Alter und in jeder Situation an Frauenärztinnen und Frauenärzte wenden. Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung ist das entscheidende Gegengewicht zur Informationsüberflutung im Netz. Viele Patientinnen reagieren im Gespräch dankbar über die fachärztliche Aufklärung.

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Das Bewusstsein von Patientinnen hat sich gewandelt. Hat das Auswirkungen auf die Verordnungspraxis?

An der Verordnungspraxis hat sich nicht viel verändert. Sie geschieht auf Grundlage der S-3-Leitlinie „Hormonelle Empfängnisverhütung“. Wir betrachten unter anderem das Thromboserisiko, fragen: Ist die Patientin Raucherin? Wie hoch ist ihr BMI? Mögliche familiäre Risikokonstellationen sind ebenfalls zu beachten. Für Erstanwenderinnen – insbesondere junge Mädchen – sind oft eine hohe kontrazeptive Sicherheit und gute Anwendbarkeit bedeutsam. Wir beziehen Alter beziehungsweise Erfahrung mit sexueller Aktivität und Verhütung ein.

Sind natürliche Verhütungsmethoden für junge Frauen überhaupt sinnvoll?

Ungewollte Schwangerschaften bei jungen Frauen oder Teenagern werden als besonders dramatisch empfunden – sie können für die psychische und physische Gesundheit sehr nachteilige Folgen haben. Umso wichtiger ist es daher, diese von vornherein zu vermeiden und den Mädchen Zugang zu einer zuverlässigen, für sie gut praktikablen Kontrazeption zu verschaffen. Aus fachärztlicher Sicht steht die hormonelle Verhütung hier ganz oben. Verhütung ist aber grundsätzlich eine individuelle Angelegenheit, zu der wir nur beraten können. Im Hinblick auf eine hohe kontrazeptive Sicherheit und gute Anwendbarkeit sind natürliche Verhütungsmethoden insbesondere bei sehr jungen Frauen und Mädchen kritisch zu sehen.

Haben Sie dafür Beispiele?

Methoden, wie etwa die Basaltemperaturmessung, Zervixschleim- und Muttermundkontrolle, bedürfen eines guten Wissens über den eigenen Körper und im Zweifel eine zusätzliche Verhütungsmethode oder Verzicht auf Geschlechtsverkehr. Der Pearl-Index gibt einen guten Anhaltspunkt über die Sicherheit. Eine Schwangerschaft erhöht übrigens das Thromboserisiko im Vergleich zur Pille um ein Vielfaches.

Die KOK-Verordnung risikoreicherer Präparate für Frauen bis 22 Jahre lag 2022 bei 48 Prozent. Könnte dieser Anteil noch niedriger sein?

Aus fachärztlicher Sicht ist die pauschale Verwendung der Begrifflichkeiten „risikoärmer“ und „risikoreicher“ vor allem in den Medien kritisch zu sehen, wenn vorhandene Risiken nicht differenziert betrachtet und eingeordnet werden. Wir erleben einen Rückgang der Verordnung von Verhütungspillen und müssen uns hier die Frage stellen, welche anderen sicheren Verhütungsmethoden wenden diese jungen Frauen an, um ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden? Die Nebenwirkungsprofile beinhalten potenzielle Risiken, müssen jedoch individuell eingeschätzt und unter Abwägung von Nutzen und Nachteilen betrachtet werden. In der Arzneimittelanwendung und der damit verbundenen Risikokommunikation erklären wir Patientinnen Wirkprofile und Nebenwirkungsprofile, um ihnen eine korrekte Einordnung von individuellen Risiken zu ermöglichen.

Welchen Kriterien folgen Sie bei dieser Einzelfallbetrachtung?

Unter anderem spielt der Lebensstil eine Rolle. Möchte die Patientin eine regelmäßige Einnahme? Oder kann sie sich nicht vorstellen, jeden Tag zur selben Uhrzeit eine Tablette einzunehmen? Das würde schon einige Präparate ausschießen. Außerdem: Gibt es feste Schulzeiten? Schichtarbeit? Reist die Patientin viel und lebt in unterschiedlichen Zeitzonen? Insbesondere für Erstanwenderinnen und Frauen unter 30 Jahren gilt die Empfehlung, zunächst die Präparate mit dem geringsten Risiko für venöse Thromboembolien zu bevorzugen. Wenn Frauen während der Stillzeit sicher verhüten wollen, wäre es möglich, Mittel aus der Gruppe der Gestagen-Monomethoden gemäß der aktuellen AWMF-S3-Leitlinie zu wählen: Gestagen-Monopille, Kupfer- oder Gestagen-IUD oder Etonogestrel-Kontrazeptionsstäbchen. Letztlich erfolgt die Verschreibung nach Anamnese, einer Nutzen-Schaden-Abwägung und dem, was sich die Patientin von einer sicheren Verhütung erwartet.

Was hat sich in Ihrer eigenen Praxis in den vergangenen Jahren verändert?

Im Vergleich zu früher benötigen wir deutlich mehr Zeit bei der ausführlichen Beratung der Patientinnen – auch, um hier Sorgen und Unsicherheit zu nehmen. Einerseits, weil oft nur vages Vorwissen existiert. Andererseits gibt es eine sehr große Bandbreite an möglichen Verhütungsmethoden. Hier die passende Variante für jede Patientin zu finden, erledigt sich nicht in wenigen Minuten – aus fachärztlicher Sicht hätten wir hierfür gerne mehr zeitlichen Spielraum zur Verfügung.

Vielen Dank für das Gespräch.

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