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Interview

Digitalisierte Leitlinien sparen Zeit sparen erleichtern die Arbeit

Suchen Ärztinnen und Ärzte Informationen in Leitlinien, erinnert das manchmal an die Nadel im Heuhaufen. 40 Seiten Fließtext sind keine Seltenheit. Digitalisierte Leitlinien würden die Arbeit in Klinik und Praxis erheblich erleichtern, sagt Professor Martin Sedlmayr.

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Herr Professor Sedlmayr, im aktuellen WIdO-Versorgungs-Report plädieren Sie für den Einsatz digitaler Leitliniensysteme und Entscheidungs-Unterstützungssysteme in der Versorgung. Brauchen Ärzte wirklich weitere Technik, mit der sie umgehen müssen?

Aus meiner Sicht ja. Weil solche Systeme Zeit sparen, die Arbeit erleichtern, sie teilweise automatisieren.

Wo sehen Sie Effizienzvorteile?

Leitlinien werden immer umfangreicher, teilweise sind das Worddokumente oder PDF von 40 Seiten Fließtext, die auf einer Webseite veröffentlicht werden. Zudem müssen Experten Leitlinien regelmäßig prüfen, eventuell aktualisieren. Sind Leitlinien digitalisiert, lassen sie sich nicht nur schneller bearbeiten und über verschiedene Kanäle verbreiten, sondern auch mit Entscheidungs-Unterstützungssystemen verknüpfen.

Wie funktionieren diese Systeme?

Professor Martin Sedlmayr

Professor Martin Sedlmayr

© TU Dresden / Stephan Wiegand

Es ist eine Software, die Merkmale eines Patienten mit einer umfangreichen Wissensbasis abgleicht und daraus Empfehlungen für den Arzt ableitet. Leitlinien sind Teil dieser Wissensbasis – sofern sie digitalisiert vorliegen, und mehr sind als bloße PDF-Dokumente.

Welche konkreten Anwendungen sehen Sie?

Beispielsweise in der Medikation. In Deutschland gibt es mehr als 100.000 Arzneimittel, das heißt, unzählige kombinatorische Möglichkeiten. Kein Arzt kann Wechselwirkungen aller Medikamente untereinander parat haben.

Wie hilft ein Entscheidungs-Unterstützungssystem dabei?

Als Datenbasis des Systems dienen Angaben über Wirkstoffe, Indikationsgebiete und Leitlinien. Klickt der Arzt am Computer ein Medikament an, um es zu verschreiben, läuft im Hintergrund ein Algorithmus, der Informationen wie Alter, Gewicht, Diagnose,bereits verordnete Medikamente mit der Datenbasis abgleicht, den Arzt notfalls warnt und gegebenenfalls Alternativen anbietet.

Dazu müssen Sie Patientendaten mit Leitlinien verknüpfen…

…richtig, Leitlinien allein bringen wenig. Es kann zum Beispiel sein, dass eine Medikation genau auf eine Diagnose passt. Allerdings ist der Patient über 65 und speziell für diese Altersgruppe warnen Leitlinien vor dem Wirkstoff. Oder ein Medikament verursacht als Nebenwirkung starke Müdigkeit. Dann ergibt es einen Unterschied, ob ich es einer Seniorin verschreibe, die zwischendurch ein Schläfchen halten kann, einer alleinerziehenden Mutter mit Kleinkind oder gar einem Berufskraftfahrer.

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Kennt der Arzt Patienten gut, kann er solche Aspekte auch berücksichtigen.

Mag sein. Aber ein Computer ist 24 Stunden einsatzbereit, an sieben Tagen der Woche. Er ermüdet nicht. In Zeiten von Ärztemangel, langen Arbeitszeiten, immer mehr diagnostischen und therapeutischen Optionen, bei gleichzeitig immer komplexeren Patientenmerkmalen ein Vorteil. Allerdings immer zur Unterstützung des Arztes und nicht als Ersatz.

Viele Leitlinien verlangen nach Antworten eines Arztes, etwa auf die Frage: Ist ein adäquates soziales Umfeld vorhanden, um eine Betreuung zu Hause zu gewährleisten? Eine Software dürfte in dem Fall an ihre Grenze stoßen.

Richtig: Bei solchen Fragen helfen klinische Systeme oder Praxissysteme nicht weiter. Aber auch die Versorgung in den eigenen vier Wänden ändert sich. Künftig könnten viel mehr Informationen verfügbar sein – beispielsweise durch Fitnesstracker und Smartwatches – auf die Entscheidungs-Unterstützungssysteme zurückgreifen können.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie den Bereich Ambient Assisted Living, also alltagsunterstützende Assistenzlösungen. Solche Systeme könnten bei pflegebedürftigen Patienten situationsabhängig Daten sammeln, sie auswerten, warnen und Hilfestellung anbieten oder externe Dienstleister einbinden.

Martin Sedlmayr ist Professor für Medizinische Informatik an der TU Dresden und Direktor des Zentrums für Medizinische Informatik der Hochschulmedizin Dresden.

Welche Anforderungen müssen Leitlinien erfüllen, damit sie maschinell verarbeitet werden können?

Sie müssen möglichst viel Wissen enthalten, das sich in unterschiedlichen Detaillierungsgraden aufbereiten lässt. Sie müssen an die Komplexität und Nuancierung möglicher Anwendungen angepasst sein, sich an Vokabular und Strategien der Anwender orientieren.

Gibt es Leitliniensysteme, die mit Künstlicher Intelligenz (KI) arbeiten?

Ja, manche Modelle lernen mit maschinellen Lernverfahren retrospektiv. Interessant ist KI aber vor allem bei Entscheidungs-Unterstützungssystemen.

Können Sie das erläutern?

Es gibt die Möglichkeit, dass sich der Algorithmus, der Patienten überwacht, oder Therapievorschläge unterbreitet, nach jedem neuen Patienten selbstständig verändert. Also: Das System misst den individuellen Therapieerfolg oder -misserfolg, speist diese Daten automatisch in sein System und korrigiert den Algorithmus entsprechend der neu gewonnenen Informationen. Derzeit dürfte ein solches System aber nicht eingesetzt werden.

Warum nicht?

Eine Software, die geeignet ist, ärztliche Entscheidungen zu beeinflussen, gilt als Medizinprodukt – und das muss zertifiziert werden. Eine Zertifizierung erfordert feststehende Parameter. Sich verändernde oder weiterlernende Systeme sind deshalb bislang nicht zulassungsfähig.

Wie lässt sich dieses Dilemma lösen?

Darüber müssen Juristen und Ethiker diskutieren, da geht es auch um haftungsrechtliche Fragen. Am Ende kann darüber nur der Gesetzgeber entscheiden.

Ein anderes Problem ist, dass bei komplexen KI-Modellen oft nicht nachvollziehbar ist, warum das System eine bestimmte Entscheidung getroffen hat. Beunruhigt Sie das?

Sicher ist es ein Manko, dass in neuronalen Netzen oder bei Deep Learning Black-Box-Algorithmen existieren. Aber es gibt einen relativ neuen Forschungszweig – Explainable Artificial Intelligence (XAI): Erklärbare Künstliche Intelligenz. Dieser Ansatz dreht sich um die Frage, wie wir Modelle so gestalten, dass sie zumindest abschnittsweise nachvollziehbar werden. Wir werden aber auch lernen müssen, den Systemen zu vertrauen.

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Vom Alltag vieler Ärzte dürften solche Themen weit entfernt sein. Daher sind wir wieder bei der Frage vom Anfang: Wie wollen Sie bei der Digitalisierung von Leitlinien Ärzte und Pflegekräfte an Bord holen?

Zunächst verstehe ich die Reserviertheit von Kollegen. Es gab in der Vergangenheit viele Versprechungen – Motto: KI löst alle Probleme. Das hat sich nicht erfüllt. Wir müssen die Arbeitserleichterung, die solche Systeme bieten, betonen. Allerdings sind dabei auch die Hersteller gefragt.

Inwiefern?

Bislang sind viele Systeme untereinander inkompatibel. Jeder Anbieter hat eigene Algorithmen, eigene Software, eigene Benutzeroberflächen. Das erleichtert nicht gerade die Arbeit. Wie lautet die Lösung?

Interoperabilität, ist hier das Stichwort. Also die Fähigkeit unterschiedlicher Leitliniensysteme und Entscheidungs-Unterstützungssysteme miteinander zu kommunizieren. Möglicherweise braucht es auch hier einen gesetzlichen Rahmen. Ich bin guter Hoffnung, dass das gelingt.

Vielen Dank für das Gespräch!

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