Leichtere Recherche für Ärzte
Digitalkompass für den Leitliniendschungel
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften startet ein Forschungsprojekt zur Digitalisierung von Leitlinien: Künftig sollen die Empfehlungen im Krankenhaus, in der Praxis und für Laien verfügbar sein.
Veröffentlicht:Vor gar nicht allzu langer Zeit navigierten Menschen mit Stadtplänen und Straßenkarten durch die Welt. Großformatige Bögen, die sich teilweise nur über komplexe Falttechniken zusammenlegen und transportieren ließen, entschieden über die richtige Richtung. Später ersetzten CDs das unhandliche Papier, kopierten Computerexperten Kontinente auf kleine Kunststoffscheiben.
Heute leiten Satellitensysteme durch die Labyrinthe des Lebens. Moderne Navis erkennen Stoppschilder, warnen vor Gefahren und empfehlen Alternativrouten. Wenn Professorin Ina Kopp über ihre Arbeit spricht, wählt sie gern den Vergleich mit früheren, aktuellen und künftigen Wegweisern.
Aktueller Stand: PDF-Files
Ina Kopp, Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF-IMWi), verantwortet Forschungsprojekte zur Digitalisierung von Leitlinien. Analog zu Navis sind auch sie eine Art Kompass – im immer dichter werdenden Dschungel aus Studienergebnissen und Therapiemöglichkeiten. Kopp sagt: „In den Neunzigern haben wir Leitlinien noch gedruckt, derzeit publizieren wir sie als PDF-Files im Internet.“ Doch in einigen Jahren soll sich kein Arzt mehr durch dicke Dokumente kämpfen, um zwischen hunderten Zeilen auf den passenden Vorschlag für einen individuellen Krankheitsfall zu stoßen.
Sie schildert das Beispiel einer fiktiven Patientin. Die Frau habe im Internet Beiträge über Brustkrebs gelesen. Es gebe da eine neue Chemotherapie, sagt sie zu ihrer Gynäkologin. Bislang musste die Medizinerin, die dazu Informationen aus einer aktuellen Leitlinie im Register der AWMF gesucht hat, 150 Seiten Leitlinientext durchforsten. In Zukunft tippt sie eine konkrete Zielfrage nach neuen Zytostatika-Anwendungen in den Rechner und erhält darauf präzise Antworten. Das spart Zeit – und im besten Fall könne sie noch in der Sprechstunde mit ihrer Patientin neue Möglichkeiten diskutieren. Doch wie funktioniert die Digitalisierung? Das berichtet die Expertin im Gespräch mit pro Dialog.
Zunächst übersetzen die Wissenschaftler das Leitlinienwissen in Computersprache. Was die Arbeit erleichtert: Schon jetzt, in menschenlesbarer Sprache, sind die AWMF-Leitlinien stark strukturiert. So korrespondiert das PICO-Format (Patient – Intervention – Comparison – Outcome) gut mit automatisierten Algorithmen. Was unterscheidet dieses Prinzip von Künstlicher Intelligenz (KI), wie ChatGBT? „Dort richten sich die Ergebnisse nach der Häufigkeit mit der ChatGBT zuvor mit ähnlichen Antworten punkten konnte“, sagt Ina Kopp. Leitlinien spiegelten aber auch die Qualität der Evidenz und den Empfehlungsgrad. Beispielsweise: Welche Relevanz hat die verwendete Literatur? Welche Aussagesicherheit die analysierten Studien? Gab es bei speziellen Aspekten Konsens oder Dissens unter den Leitlinienautoren?
Evaluation auch durch Hausärzte
„Nachvollziehbare Angaben zur Aussagesicherheit sind für die informierte Entscheidungsfindung zu gesundheitlichen Fragestellungen unerlässlich. Daher muss KI mit Leitlinienwissen trainiert werden“, sagt Ina Kopp. In der Umsetzung will die AWMF Leitlinienwissen aus dem Register der AWMF zunächst über Krankenhaus- und Praxisinformationssysteme anbieten. Kopp betont: „Als Evaluationsgruppe haben wir auch Hausärzte im Blick.“ Deren Erfahrungen als Nutzer seien sehr wertvoll.
Zur dauerhaften Nutzung müssten die digitalen Leitlinien in bestehende Strukturen integriert werden, etwa in eine Praxissoftware. Der aktuelle Versorgungs-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hatte erst kürzlich gezeigtl dass die Umsetzung von medizinischen Leitlinien in die Praxis oft zu lange dauert.