Kinderonkologie
INFORM-Tumorboard: „Unsere Leistung ist das Einordnen“
Jungen Krebspatienten eine zweite Chance geben, das ist das Ziel der molekularen Präzisionsonkologie. Professor Olaf Witt vom Hopp-Kindertumorzentrum in Heidelberg gibt im Interview Einblicke in die Forschungsarbeit. Und erläutert, warum die Studie auch für Krankenkassen interessant ist.
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Eine junge Patientin wird in der Kinderklinik des Hopp-Kindertumorzentrums Heidelberg (KiTZ) untersucht. Das KiTZ ist eine gemeinsame Einrichtung von DKFZ sowie Uniklinikum und Universität Heidelberg.
© Tobias Schwerdt / KiTZ
Herr Professor Witt, welche Idee steht hinter der INFORM-Studie?
Etwa ein Fünftel der jungen Krebspatienten können nicht geheilt werden, weil die üblichen Standardtherapien bei einem Rückfall nicht mehr anschlagen. Sie sterben. Unser Ziel ist es, dass diese Kinder eine zweite Chance erhalten.
Bei einem Rückfall suchen Ärzte und Wissenschaftler molekulare Angriffsziele, durch die sich effektivere, auf die Tumorbiologie abgestimmte Behandlungsmöglichkeiten erschließen könnten. Ein wichtiger Aspekt ist neben der nationalen die internationale Zusammenarbeit. Wegen der geringen Fallzahlen müssen wir mindestens deutschlandweit zusammenarbeiten, damit wir überhaupt ausreichend Fallzahlen zusammen bekommen, um wissenschaftlich fundierte Empfehlungen geben zu können. Multizentrische Kooperation ist ein wesentliches Prinzip der Kinderonkologie.
Und wie hat sich die Arbeit an der Studie entwickelt?
Wir haben den Nutzen molekularer Präzisionsonkologie bei Kindern weltweit erstmalig systematisch ermittelt. Seit dem Start der Studie im Jahr 2015 wurden mehr als 2500 junge Patientinnen und Patienten von 100 Zentren aus 13 Ländern in die Registerstudie aufgenommen. Inzwischen haben wir die Studie so weit entwickelt, dass sie auch für Kassen interessant ist. Davor haben wir die Arbeit über Spenden, Drittmittel und institutionelle Mittel finanziert.

Prof. Olaf Witt ist Direktor „Translationale Onkologie“, am Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg.
© Philipp Benjamin / UKHD
Wie ist die Zusammenarbeit bzw. der Austausch der Disziplinen organisiert?
Wir treffen uns jeden Freitag im molekularen INFORM-Tumorboard. Dort kommen alle Experten, also Kinderonkologen, Molekularbiologen, Pathologen, Humangenetiker, Bioinformatiker, das Heidelberger INFORM-Team und weitere Experten aus unserer Fachgesellschaft GPOH, sowie die jeweiligen behandelnden Ärzte zusammen. In diesem Kreis werden alle Informationen diskutiert, gewichtet und die Daten im Kontext des individuellen Patienten bewertet.
Wir haben einen Algorithmus entwickelt, mit dem die Eignung molekularer Veränderungen in einem Tumor als therapeutische Zielstruktur in sieben Kategorien von „sehr geeignet“ bis „ungeeignet“ eingestuft werden kann.
Unsere Brain-Leistung besteht also in der Einordnung von Informationen. Wir lassen die behandelnden Ärzte, die Patienten und deren Eltern nicht mit einer Flut von Informationen, die durch eine Genomsequenzierung üblicherweise generiert werden, im Regen stehen, sondern unterstützen bei der Entscheidung darüber, ob eine Behandlung auf Basis molekularer Daten sinnvoll ist oder nicht.
Und bei wem liegt letztendlich die Entscheidung?
Diese Entscheidung liegt immer beim behandelnden Arzt vor Ort. Wir versuchen, in erster Linie herauszufinden, ob der Patient sinnvoll behandelt werden kann oder nicht. Ob es zum Beispiel eine Studie gibt, in die der Patient passen könnte. Oder ob es ein passendes zugelassenes Medikament aus der Erwachsenenmedizin gibt, mit dem eine Off-label-Therapie sinnvoll sein kann. Dann muss letztlich der Arzt vor Ort entscheiden. Als Grundlage dafür dient der Tumorbeschluss des INFORM-Boards.
Daran werden sich übrigens auch die Krankenkassen orientieren, wenn es um die Übernahme von Kosten geht.
Worin sehen Sie die größten Probleme der Kinderonkologie?
Zu den drängendsten Problemen gehören Resistenzen gegenüber Krebsmedikamenten. Nach einem Rückfall bleibt meist nur wenig Zeit, um den Krebs erneut zu bekämpfen. Im Durchschnitt sind das nur wenige Monate.

Am Hopp-Kindertumorzentrum (KiTZ) und am DKFZ in Heidelberg wird das Tumor-Erbgut der am INFORM-Projekt beteiligten Patienten mit Hochdurchsatz-Sequenzierern entschlüsselt.
© Tobias Schwerdt / DKFZ
… und worin sehen Sie einen Lösungsansatz?
Wir entschlüsseln das Genom des Tumors, um nach molekularen Schwachstellen zu suchen, die medikamentös angreifbar sind. Eine kleine Probe des Tumors wird außerdem am Leben erhalten, um die Wirksamkeit möglichst vieler Medikamente im Labor testen zu können. Dass diese Minitumoren im Labor im Hochdurchsatzverfahren zuverlässig eingesetzt werden können, um die Wirksamkeit von Medikamenten zu testen, zeigt eine kürzlich von uns publizierte Studie.
Aus den Krebs-Gewebeproben von 132 Patientinnen und Patienten, die an unterschiedlichen Krebszentren in Europa behandelt werden, haben wir Minitumoren kultiviert und sie dem speziell für INFORM entwickelten Medikamententest unterzogen. Bis zu 78 Medikamente, die bereits zugelassen sind oder sich derzeit in der klinischen Erprobung befinden, konnten an den jeweiligen Proben parallel getestet werden. Die Ergebnisse der Tests bestätigten zum einen die durch Genomanalyse identifizierten molekularen Angriffsziele: In Tumorproben mit bekannten krebstreibenden genetischen Veränderungen töteten Therapeutika, die sich gegen diese Ziele richten, die Minitumoren auch am wirksamsten ab.
Zudem haben wir für 80 Prozent der Proben, bei denen im Tumorgenom keine therapeutisch relevante molekulare Schwachstelle gefunden wurde, wirksame Medikamente gefunden.
Das heißt, die Medikamentenprüfung ist zusätzlich zur Tumorerbgut-Entschlüsselung eine weitere Möglichkeit, um alternative Behandlungsmöglichkeiten für die Patienten zu identifizieren.
Ein wichtiges Ziel wird es nun sein, die Ergebnisse aus dem Labor mit dem klinischen Verlauf der Patienten zu vergleichen, um die Zuverlässigkeit der Vorhersagen zu untersuchen. Erste klinische Beobachtungen bei Kindern weisen darauf hin, dass die Tests im Labor Resistenzbildungen bei den jungen Patientinnen und Patienten vorhersagen können. Wir hoffen, dass die jetzt geplanten klinischen Untersuchungen die Zuverlässigkeit des Verfahrens bestätigen.
Ist das der Fall, so könnten wir anhand der Labortests sehr viel mehr Kindern eine neue Behandlungschance eröffnen.
Alles in allem heben wir aber bisher nur die Spitze des Eisbergs. INFORM ist aber ein dynamisches System, das durch einen Kreislauf aus wissenschaftlicher Entwicklung und klinischer Erprobung stetig weiterentwickelt wird.
Die eine Seite betrifft die Forschung, die andere die Patienten und deren Eltern. Wie kann Eltern vermittelt werden, dass es keine Therapie mehr gibt?
Auf jeden Fall müssen die Eltern gut vorbereitet werden und darüber informiert werden, dass unsere Arbeit zwar eine Chance bietet, eine Behandlungsmöglichkeit zu finden. Dass es aber auch möglich sein kann, dass wir keine angreifbare Veränderung im Tumor finden. Und dass in diesem Falle die beste Lösung für das kranke Kind sein kann, keine unnötigen, belastenden Therapien durchzuführen. Dass es dann besser ist, das Kind zu Hause palliativ zu versorgen.
Das ist eben auch ein Mehrwert unserer Arbeit: Wir helfen, die richtige Entscheidung für die Kinder zu treffen, geben den behandelnden Ärzten die dafür relevanten Informationen und interpretieren die Daten.