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Interview zum WIdO Versorgungs-Report

Leitlinien – bitte nicht zu eng auslegen!

Sie sollen Handlungskorridore aufzeigen, aber keine Handlungsanweisungen sein, sagt die Gynäkologin Dr. Monika Nothacker zu Leitlinien. Patientensouveränität sei wichtig, so die Mitherausgeberin des WIdO Versorgungs-Reports. Aber auch zu Interessenkonflikten von Leitlinienautoren hat sie eine klare Meinung.

Von Frank Brunner Veröffentlicht:
Leitlinien sollen Ärztinnen und Ärzten Handlungsoptionen bieten – auf welcher Therapieetage sie aussteigen, müssen sie gemeinsam mit dem Patienten eruieren. Auch ein Abweichen von der Leitlinie ist in begründeten Fällen berechtigt.

Leitlinien sollen Ärztinnen und Ärzten Handlungsoptionen bieten – auf welcher Therapieetage sie aussteigen, müssen sie gemeinsam mit dem Patienten eruieren. Auch ein Abweichen von der Leitlinie ist in begründeten Fällen berechtigt.

© zphoto83 / stock.adobe.com

Ein und dieselbe Krankheit kann je nach Betroffenem in Intensität und Ausprägung variieren. Hinzu kommen unterschiedliche Vorerkrankungen. Wie sinnvoll sind angesichts spezifischer Krankheitsbilder generelle medizinische Leitlinien, wie sie die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) veröffentlicht?

Zunächst sind Leitlinien keine starren Handlungsanweisungen, sondern Handlungskorridore. In diesem Rahmen können Ärzte entscheiden oder – in begründeten Fällen – auch davon abweichen. Ob Ärzte eine Leitlinie anwenden, müssen sie in jeder Situation prüfen. Aber häufig treffen wir auf Patienten, die wir zusammenfassen können. Das heißt, dass viele diagnostische und therapeutische Empfehlungen auf größere Gruppen von betroffenen Patienten und Patientinnen anwendbar sind.

Dr. Monika Nothacker ist Fachärztin für Gynäkologie und seit 2012 stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).

Dr. Monika Nothacker ist Fachärztin für Gynäkologie und seit 2012 stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).

© Nothacker

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Nehmen wir eine beginnende Harnwegsinfektion mit leichter Symptomatik. Die Leitlinie empfiehlt, nicht sofort Antibiotika zu verabreichen, sondern es zunächst mit viel Flüssigkeit und pflanzlichen Präparaten zu versuchen. Das funktioniert bei vielen Patienten. Doch bei Menschen mit Krebs, die gerade eine Chemotherapie hinter sich haben, durch die das Immunsystem unterdrückt wurde – was ja bei Krebs gewollt ist –, genügen diese Maßnahmen möglicherweise nicht, um die körpereignen Abwehrkräfte zu unterstützen. In dem Fall gibt es gegebenenfalls eine spezielle Empfehlung für einen schnellen Antibiotikaeinsatz. Dabei sind immer auch unerwünschte Wirkungen zu beachten, beispielsweise ob der Patient allergisch auf ein bestimmtes Antibiotikum reagiert.

Oder Prostatakrebs. Für die Therapie präsentiert die Leitlinie mehrere Möglichkeiten. Welche angewendet wird, ist unter anderem davon abhängig, wie früh das Karzinom entdeckt wurde. Ist es noch klein, könnte zunächst ein abwartendes Vorgehen gewählt werden alternativ zur sofortigen Operation. Wichtig ist es, Patienten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.

Wenn Therapieentscheidungen immer auf einer Kombination aus Leitlinien, Patientenpräferenzen und einem ganz spezifischen medizinischen Kontext beruhen, wie ist es dann möglich, die Wirksamkeit einzelner Leitlinien zu evaluieren?

Teilweise funktioniert das gut. Bei Brustkrebs beispielsweise. Anhand von Daten aus onkologischen Zentren und von Krebsregistern können wir nachvollziehen, welche Patienten nach Leitlinienempfehlungen behandelt wurden und wie erfolgreich die jeweilige Therapie war. Dort wird auch hinterlegt, wenn Patienten Therapien ablehnen. Aber leider besteht diese Möglichkeit nicht bei allen Diagnosen. Wir haben Leitlinien mit bis zu 80 Empfehlungen, von denen wir nur wenige gut evaluieren können.

Bei der Präsentation des Versorgungs-Reports sprachen Sie über Interessenkonflikte. Ärzte, die Leitlinien mitformulieren, fungierten auch als wissenschaftliche Beiräte oder Berater von Pharmaunternehmen. Seit wann existiert dieses Problem?

Das Thema Interessenkonflikte kam 2010 auf. Damals hatte eine Patientenorganisation von Borreliose-Betroffenen gegen Behandlungsleitlinien geklagt. Ihre Kritik: Die Leitlinienautoren seien von Pharmaunternehmen beeinflusst und hätten deshalb bestimmte Antibiotika für eine mehrwöchige Therapie empfohlen. Gleichzeitig seien Patienteninteressen nur unzureichend berücksichtig worden.

Was war dran an dem Vorwurf?

Richtig war, dass Ärzte, die bei Borreliose Antibiotika empfohlen hatten, Antibiotikahersteller beraten und das nicht offengelegt hatten. Interessanterweise mussten die Leitlinien nicht geändert werden, denn rein fachlich war daran nichts auszusetzen.

Dennoch fördert diese Intransparenz nicht das Vertrauen in die Leitlinien. Was hat sich seitdem verändert?

Es existiert ein Offenlegungsverfahren, bei dem jeder Leitlinienautor eventuelle Verbindungen zur Industrie anzeigen muss. 2018 haben wir das Verfahren verschärft und Kriterien entwickelt, nach denen wir Interessenkonflikte in die Kategorien „gering“, „moderat“ und „hoch“ einordnen. Ab einem Interessenkonflikt der Stufe „moderat“ sollten Leitlinienautoren nicht über die jeweilige Empfehlung abstimmen – oder zumindest erkennbar herausgerechnet werden können.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang „gering“ oder „moderat“?

Ein Kriterium ist zum Beispiel, wie lang der Kontakt zu einem Unternehmen besteht. Hat der Arzt in der Vergangenheit nur einmal einen von Pharmaunternehmen bezahlten Vortrag gehalten? Oder berät er den Hersteller seit vielen Jahren? Hält er vielleicht sogar Patente, von denen ein Hersteller profitiert? Die Höhe der gezahlten Honorare fließt ebenfalls mit in die Bewertung ein. Einige Leitlinienautoren sind davon wenig begeistert.

Nachvollziehbar …

… ja, sicher. Manche Mediziner sagen: Ich wurde eingeladen, Leitlinien mit zu formulieren, weil ich Experte in meinem Fachgebiet bin. Weil ich Experte bin, berate ich auch Firma XY. Und zur Strafe darf ich nicht mit abstimmen.

Wie beurteilen Sie dieses Dilemma?

Grundsätzlich finde ich es richtig, dass solche Autoren nicht votieren dürfen. Ich sollte keine Firma beraten und gleichzeitig deren Produkt empfehlen. Wir haben aber neue Modalitäten entwickelt, um den Experten entgegenzukommen. Zusätzlich zu den bisherigen Abstimmungsmöglichkeiten: ja, nein, Enthaltung, Enthaltung wegen Interessenkonflikt, dürfen Leitlinienautoren auch die Variante „Abstimmung mit Interessenkonflikt“ wählen. Auf dem AWMF-Onlineportal können Ärzte, Patienten und Angehörige für jede Krankheit Abstimmungsverhalten und Interessenkonflikte von Leitlinienautoren im Leitlinienreport nachvollziehen.

Ein anderes Thema im Versorgungs-Report ist die bei manchen Leiden langsame Umsetzung der Leitlinien. Woraus resultiert die schleppende Implementierung?

Pauschal kann ich das nicht beantworten. Ich glaube, es ist teilweise abhängig von der Krankheitsart. Mit Herzinsuffizienz beschäftigen sich jede Menge Kardiologen, die sich regelmäßig bei Kongressen austauschen. Dabei sprechen sich Leitlinien schnell herum. Bei einer seltenen Krankheit, wie dem Restless Legs-Syndrom, dauert das länger. Eine Rolle spielt auch die Größe von Kliniken oder Praxen. In einem spezialisierten Krebszentrum können Leitlinien möglicherweise schneller umgesetzt werden als in einem kleinen Spital, das sich nicht entsprechend spezialisiert hat.

Was hat die Klinikgröße mit Leitlinienimplementierung zu tun?

Oft erfordern neu empfohlene Behandlungsmethoden auch neue Technik und eine besondere Expertise. In der Onkologie etwa haben Ärzte früher häufig die gesamten Lymphknoten entfernt, damit sich dort der Krebs nicht ausbreiten kann. Ein schmerzhafter Eingriff. Mittlerweile empfehlen Wissenschaftler, dass etwa bei Brustkrebs zunächst nur der Wächterlymphknoten untersucht wird und falls der nicht befallen wurde, müssen die übrigen Lymphknoten nicht entfernt werden. Dazu muss man den Wächterlymphknoten markieren, was besondere Technik und Expertise erfordert, über die nicht jede Klinik sofort verfügt.

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