Diagnose

Normaler Spieltrieb oder doch schon ADHS?

Die Diagnoserate von ADHS hat sich zwischen 2006 und 2012 verdoppelt. Laut einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) diagnostizierten Ärzte 2012 bei knapp fünf Prozent aller bei der AOK versicherten Kinder ADHS. Nicht immer trifft der Befund jedoch ins Schwarze.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Gerade mit sechs Jahren testen Kinder noch ihre Grenzen aus und sind eher unaufmerksam. Das sollte man vor allem bei jungen Schülern beachten.

Gerade mit sechs Jahren testen Kinder noch ihre Grenzen aus und sind eher unaufmerksam. Das sollte man vor allem bei jungen Schülern beachten.

© somenski / fotolia.com

BERLIN. Nennen wir ihn Max. Max lebt in einer Kleinstadt in Franken. Noch vor Kurzem trieb der Neunjährige seiner Familie Sorgenfalten auf die Stirn. Spielkameraden erlebten den Jungen häufig als unkonzentriert und unruhig, aufbrausend und tollpatschig.

Als die Lehrerin nach der Einschulung die Konzentrations- und Verhaltensprobleme von Max den Eltern gegenüber ansprach, suchten die einen Kinderarzt auf. Der stellte eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) fest.

ADHS gehört inzwischen zu den am häufigsten diagnostizierten Entwicklungsstörungen bei Kindern, wie aus einer aktuellen Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) unter bundesweit rund 3,5 Millionen bei der Gesundheitskasse versicherten Kindern und Jugendlichen im Alter von drei bis 17 Jahren hervorgeht.

Danach hat sich die Häufigkeit von ADHS-Diagnosen innerhalb von sieben Jahren exakt verdoppelt: Stellten Ärzte 2006 noch bei 2,3 Prozent der Kinder diesen Befund, waren es 2012 bereits 4,6 Prozent.

Dabei handelt es sich ausschließlich um handfeste Diagnosen, das heißt: Der Arzt hat sie mindestens in zwei Quartalen eines Jahres gestellt. Verdachtsdiagnosen sind nicht eingerechnet.

Jungen sind häufiger betroffen

Weiteres Resultat der WIdO-Recherchen: Jungen sind doppelt so oft von ADHS betroffen wie Mädchen. Nahezu jeder zehnte Junge im Alter zwischen neun und elf Jahren bekommt die Diagnose ADHS gestellt.

Als besonders alarmierend stufen die Studienautoren Helmut Schröder, Katrin Schüssel und Andrea Waltersbacher die Ergebnisse für diejenigen Jungen ein, die gerade eingeschult worden sind: Denn die Daten des WIdO belegen erstmals für Deutschland, dass unter den Schulkindern des Jahres 2012 ausgerechnet die Jüngeren das höchste Risiko einer ADHS-Diagnose tragen.

Also Abc-Schützen, die erst kurz vor dem gesetzlich festgelegten Stichtag sechs Jahre alt werden - und denen die Konzentration auf den Unterricht daher altersbedingt teilweise schwerer fällt als ihren älteren Mitschülern.

Dagegen werden ältere Kinder, die bei der Einschulung den sechsten Geburtstag schon länger hinter sich haben, seltener wegen einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung behandelt. So liegt die ADHS-Häufigkeit bei den jüngsten Kindern des Jahres 2012 bei 6,3 Prozent. Bei den ältesten Schulkameraden desselben Schuljahrgangs beträgt sie nur 5,4 Prozent.

Damit haben die jüngsten Kinder dieses Jahrgangs ein deutlich höheres Risiko, dass der Arzt eine ADHS-Diagnose stellt. Für diese Kinder kann der Befund bedeuten: Altersgerechte Verspieltheit und typische Unbändigkeit werden mitunter als Symptome gedeutet, die zu einer voreiligen ADHS-Behandlung führen.

Verunsicherte Eltern

"Wenn Kinder im Schulunterricht ständig aufstehen, herumlaufen und auf die Ermahnungen der Lehrer nicht reagieren, kann das unterschiedliche Ursachen haben", betont WIdO-Experte Helmut Schröder.

"Es liegt entweder daran, dass das Kind noch sehr jung ist und lediglich seinem üblichen altersgerechten Spieltrieb folgt. Oder es liegt daran, dass das Kind tatsächlich ADHS hat."

Dann besteht die Gefahr, dass die Lehrer den Eltern dieser Kinder den Hinweis auf eine mögliche ADHS-Erkrankung geben. Besorgte Mütter und Väter tragen dies dann eventuell dem behandelnden Kinderarzt vor.

Die Folge: Das Kind gerät möglicherweise vorschnell unter den Verdacht, eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung zu haben. "Der altersgerechte Entwicklungsstand wird möglicherweise zu wenig berücksichtigt", meint Schröder.

Gemeinsame Ursachenforschung

Die Wahrscheinlichkeit einer Behandlung mit Psychopharmaka ist laut WIdO-Analyse für die Schulkinder recht hoch: Mit dem Schulstart steige der Einsatz entsprechender Arzneien. AOK-versicherte Kinder mit ADHS-Diagnose bekamen im Vorschulalter hauptsächlich Ergotherapie und Sprechtherapie.

Dagegen wächst bei den Grundschulkindern laut der Analyse der Anteil der Patienten, die Wirkstoffe zur Konzentrationsförderung verschrieben bekommen, auf 34 Prozent. Damit erfolge bei jedem dritten Grundschulkind mit ADHS-Diagnose eine Pharmakotherapie der Erkrankung.

Die Empfehlung des WIdO lautet daher: Lehrer, Eltern und Ärzte sollten die Kinder sorgfältig beobachten und andere Ursachen für Unruhe und Konzentrationsprobleme ausschließen, bevor die Diagnose einer ADHS gestellt werde.

Interview zu ADHS: "Sensibilität hat zugenommen"

Bei ADHS sind auch die Eltern in der Verantwortung, so Kinderarzt Eckhard Ziegler-Kirbach aus Bremerhaven.

Eckhard Ziegler-Kirbach ist niedergelassener Kinderarzt in Bremerhaven.

Eckhard Ziegler-Kirbach ist niedergelassener Kinderarzt in Bremerhaven.

© privat

Ärzte Zeitung: Die Zahl der ADHS-Diagnosen hat zuletzt deutlich zugenommen. Welche Ursachen sehen Sie aus Sicht eines Kinderarztes?

Eckhard Ziegler-Kirbach: Unsere Aufmerksamkeit wird heute stärker beansprucht als je zuvor. Menschen, die ihre Aufmerksamkeit schlecht lenken können und mit der emotionalen Steuerung Schwierigkeiten haben, kommen in einer komplexen Gesellschaft schlechter zurecht.

Auch haben wir eine stärkere Sensibilität für ADHS entwickelt. Wir haben mehr und bessere diagnostische Verfahren und Therapiemöglichkeiten. Menschen, die diesbezüglich unter Druck geraten, wenden sich heute eher an einen Arzt und Therapeuten.

Was empfehlen Sie Eltern von Kindern, die an ADHS erkrankt sind?

Als erstes sollten sie nach Möglichkeit das, was die Aufmerksamkeit stört und abzieht, verringern oder beseitigen. Dazu gehört beispielsweise der Dauergebrauch von Smartphones oder unreguliertes Fernsehen und Spielen am PC. Besonders bei Jugendlichen können Müdigkeit und Schlafmangel eine erhebliche Rolle spielen. Wachheit ist die Voraussetzung für eine gute Aufmerksamkeit.

Besonders wichtig sind klare, verlässliche Erwachsene, vor allem die Eltern, aber auch Erzieherinnen, Lehrkräfte oder Sporttrainer. Eine klare Tagesstruktur gibt allen eine sichere Orientierung. Sehr hilfreich sind gemeinsame, entspannte Mahlzeiten.

Die gemeinsame Zeit sollten alle als möglichst harmonisch erleben, damit die Beziehungen stabil bleiben. Über die guten Beziehungen bleibt der elterliche Einfluss wirksam.

Sie beteiligen sich an einem Versorgungsvertrag der AOK Bremen/Bremerhaven. Welchen Nutzen hat das Konzept?

Der größte Nutzen ist die Zeit, die wir den ADHS-Patienten und ihren Eltern geben können. Nach einer ausführlichen Diagnostik erarbeiten wir Therapieziele. Wir bereiten eine notwendige Arzneitherapie intensiv vor und begleiten sie. Wir unterstützen Eltern und stärken Kinder und Jugendliche in ihrer Eigenverantwortung und Selbsteinschätzung.

Zudem arbeiten wir über den ADHS-Vertrag eng mit Kinder- und Jugendpsychiatern und Psychotherapeuten zusammen. Alle drei Monate treffen wir uns in einem interdisziplinären Qualitätszirkel. Mit dem ADHS-Vertrag hat die AOK Bremen/Bremerhaven eine Vorreiterrolle übernommen.

Wir haben einen stabilen und verlässlichen Rahmen für unsere Arbeit. Mein großer Wunsch ist, dass sich auch ADHS-Patienten von anderen Krankenkassen in solche Verträge einschreiben können.

Das Interview führte Thomas Hommel

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