Interview
Warum es PRISCUS trotz Leitlinie braucht
Petra Thürmann, Professorin für Klinische Pharmakologie und Vizepräsidentin für Forschung an der Universität Witten / Herdecke, über potenziell inadäquate Medikamente für ältere Menschen und ihre Arbeit an der PRISCUS-Liste.
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Petra Thürmann ist Professorin für Klinische Pharmakologie und Vizepräsidentin für Forschung an der Universität Witten / Herdecke.
© Universität Witten / Herdecke
Frau Prof. Thürmann, laut Arzneimittel-Kompass verschrieben Ärzte im Jahr 2021 rund 50 Prozent aller 16,4 Millionen gesetzlich Krankenversicherten mindestens ein potenziell inadäquates Medikament (PIM). Also ein Arzneimittel, das besonders bei älteren Menschen unerwünschte Nebenwirkungen verursachen kann. Woraus resultiert die hohe Zahl?
Legt man die erste PRISCUS-Liste von 2010 zugrunde, dann ist diese Zahl viel niedriger. Die sehr hohe Zahl beruht darauf, dass wir in PRISCUS-2.0 deutlich mehr Medikamente gelistet haben. Einen großen Anteil, mehr als die Hälfte, an verordneten PIM haben die Protonenpumpenhemmer. Die verschreiben Ärzte sehr oft, um eine Nebenwirkung von Schmerzmitteln oder blutverdünnenden Mitteln – nämlich Magenreizungen oder gar Magenblutungen – zu lindern.
Die Protonenpumpenhemmer ihrerseits haben aber auch Nebenwirkungen.
Genau. Der Körper resorbiert einige Nährstoffe schlechter, beispielsweise Kalzium, was das Risiko von Knochenbrüchen erhöht. Ein möglicher Vitamin-B12-Mangel durch solche Säureblocker kann Konzentrationsstörungen und Blutarmut auslösen. Was Jüngere vielleicht ganz gut verkraften, ist für Senioren möglicherweise gefährlich. Deshalb stufen wir Protonenpumpenhemmer als PIM ein, wenn Patienten ihn mehr als acht Wochen verwenden.
Was ist mit Älteren, die diesen Wirkstoff aufgrund einer Indikation benötigen?
Protonenpumpenhemmer sind oft sinnvoll. Etwa, wenn Patienten nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall Gerinnungshemmer einnehmen. Andererseits wissen wir aus Studien, dass bei mindestens 30 Prozent der über 65-Jährigen Protonenhemmer abgesetzt oder zumindest die Dosis reduziert werden könnte.
Neben Protonenpumpenhemmern wurden auch Diabetes-Medikamente in PRISCUS 2.0 aufgenommen. Warum?
Diese Wirkstoffe hatten wir 2010 noch nicht berücksichtigt, weil vernünftige Alternativen fehlten. Mittlerweile gibt es die auch für ältere Patienten. Außerdem sind die Leitlinienempfehlungen für Diabetes nicht mehr dieselben, wie vor gut einem Jahrzehnt.
Apropos Leitlinien: Warum integriert man PRISCUS 2.0 nicht in die Entscheidungshilfen?
Leitlinienautoren folgen einem strikten Verfahren. Entscheidend ist Evidenz, die auf randomisierten, Placebo-kontrollierten Studien beruht. Doch darin sind Ältere meist unterrepräsentiert. Zudem werden bestimmte Parameter, wie die Fitness, ausgeblendet. Es ergibt aber einen Unterschied, ob ich ein Medikament einem 70-jährigen Marathonläufer verordne oder einem Gleichaltrigen, der kaum noch aus dem Sessel kommt, weil Muskelkraft und Sehvermögen eingeschränkt und deshalb die Sturzgefahr erhöht ist.
Wie arbeiten Sie bei PRISCUS?
Unsere Analysen beruhen vor allem auf der retrospektiven Betrachtung epidemiologischer Studien, bei denen wir speziell Statistiken zu älteren Menschen auswerten. Außerdem berücksichtigen wir kleinere Studien und werten Nebenwirkungsberichte aus. Im Zweifel sagen unsere Experten: Wir haben zwar nicht viele Daten, aber es ist klar, dass ein Wirkstoff die Muskeln extrem entspannt, das kann bei Gebrechlichkeit zu Stürzen führen und deshalb markieren wir die Arznei als PIM.
Unsere westlichen Gesellschaften werden älter. Weshalb spiegelt sich das so wenig in medizinischen Studien?
Tatsächlich verändert sich gerade einiges. Bei neuen Medikamenten achten Zulassungsbehörden zunehmend darauf, dass auch ältere Menschen untersucht werden. Die US-amerikanische „Food and Drug Administration“ (FDA) beispielsweise verschärft diesbezüglich gerade ihre Regularien. Und auch bei uns werden die Aspekte Multimorbidität und Polypharmazie in den Leitlinien stärker thematisiert.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Sicher. Das Medikament Spironolacton verordnen Ärzte bei Herzinsuffizienz ab einem gewissen Schweregrad. In den Nationalen Versorgungsleitlinien warnen die Autoren, dass höhere Dosierungen bei älteren Patienten Nierenfunktionsstörungen und Herz-Rhythmusstörungen verursachen können. In der PRISCUS-Liste haben wir das präzisiert und stufen Spironolacton ab einer Menge von 25 Milligramm pro Tag als PIM ein.
Die Statistik zeigt, dass mehr Frauen als Männer PIM einnehmen. Woran liegt das?
Ältere Männer leiden vor allem an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch an Gicht. Frauen dagegen kämpfen vermehrt mit Kniegelenkbeschwerden, Rheuma und Depressionen. Auf der PRISCUS-Liste ist eine viel größere Zahl an Schmerzmitteln und Psychopharmaka als „potenziell inadäquat“ aufgeführt als an Herz-Kreislauf-Medikamenten.
Unterschiede existieren auch zwischen Bundesländern. Spitzenreiter ist das Saarland, wo fast 55 Prozent der AOK-Versicherten über 65 Jahre PIM verordnet bekommen. Im besten Bundesland Bremen sind es knapp sieben Prozent weniger. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen der Zahl der Fortbildungen, die die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung (KV) des Bundeslandes zum Thema PRISCUS anbietet und der Zahl der PIM-Verordnungen. Die Angebote der einzelnen KVen, aber auch der jeweiligen Ärztekammern sind sehr unterschiedlich. Es ist also Optimierungspotenzial vorhanden.
Andererseits – sind sieben Prozent Differenz zwischen zwei Regionen wirklich relevant?
Auf jeden Fall! Internationale Studien zeigen, um wie viel Prozent das Risiko eines Klinikaufenthalts steigt, wenn Patienten mit PIM therapiert werden, statt auf ein risikoärmeres Medikament zu setzen. In diesem Vergleich ist jeder Prozentpunkt relevant.
Was können Ärzte tun, um eine „Potenziell Inadäquate Medikation“ zu vermeiden?
Was die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin empfiehlt: Einmal im Jahr mit den älteren Patienten die Medikationsliste durchgehen und schauen, welche Mittel abgesetzt oder neu dosiert werden können.
In dieser Woche veröffentlichten Sie gemeinsam mit dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) eine Schreibtischvorlage für Ärzte, die auf PRISCUS 2.0 beruht. Mit Blick auf das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen: Sind Informationen in Papierform noch adäquat?
Ich glaube schon. Nach der ersten PRISCUS-Liste bekam ich viel Feedback. Manche Mediziner erzählten, dass sie Teile der Liste ausgeschnitten und an den Monitor geklebt hätten. Sie dürfen auch nicht vergessen: Das Durchschnittsalter von Hausärzten – also jenen, die hauptsächlich Medikamente verordnen – liegt hierzulande bei Mitte 50. Nicht jeder hat in jeder Situation eine App oder ein Tablet parat. Hinzu kommt, dass auch digitale Medikationshilfen nicht immer sehr übersichtlich sind.
PRISCUS 2.0 existiert also auch digital?
Selbstverständlich. Die meisten Hersteller von Verordnungssoftware integrieren die Liste. Klickt ein Arzt ein Medikament an, erscheint gegebenenfalls ein Warnhinweis.
Vielen Dank für das Gespräch.