Therapiesicherheit
Bei Polymedikation den Überblick behalten!
Laut einer aktuellen Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) bekommt noch immer jeder zweite Patient über 65 Jahre in Deutschland potenziell inadäquate Medikamente. Eine Liste mit den entsprechenden Wirkstoffen soll Ärzten den Überblick erleichtern.
Veröffentlicht:
43 Prozent der Versicherten über 65 Jahre wurden 2022 mit mehr als fünf verschiedenen Wirkstoffen gleichzeitig behandelt, so das Ergebnis der WIdO-Analyse.
© Przemek Klos / stock.adobe.com
Als Frau B. ins Krankenhaus eingeliefert wurde, litt sie unter Schwindel, Husten und Herzrasen. Zudem wirkte die 72-Jährige stark verwirrt. Die Ärzte diagnostizierten Bronchitis, eine Herzerkrankung und Demenz. Zehn Medikamente schluckte Frau B., auch noch nachdem sie die Klinik verlassen hatte. Doch ihr Zustand besserte sich nicht. Erst der Hausarzt kontrollierte, was seine Patientin so alles zu sich nahm – und strich anschließend sieben Mittel vom Medikamentenplan.
Wenig später war Frau B. wieder klar, die vermeintliche Demenz vergessen. Offenbar hatte eine Kombination aus Herztabletten und Diuretika die Probleme verursacht.
Die Geschichte von Frau B. ist Teil der kürzlich veröffentlichten Broschüre „Medikamente im Alter“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Grundlage der Information ist die sogenannte PRISCUS-Liste, eine Sammlung von „potenziell inadäquaten Medikamenten“ (PIM) für ältere Patienten. Wissenschaftlich verantwortlich für PRISCUS ist Petra Thürmann. Die Medizinprofessorin von der Universität Witten/Herdecke kennt ähnliche Beispiele, wie das von Frau B.
Regelmäßige Kontrolle wichtig
Im Gespräch mit „PRO DIALOG“ erzählt sie von einer Patientin mit Hüftgelenksbeschwerden. Ihr Orthopäde verschreibt Schmerzmittel und dazu Protonenpumpenhemmer. Die Frau unterzieht sich schließlich einer Operation, irgendwann ist sie schmerzfrei, kann auf Analgetika verzichten. Nur: Den Protonenpumpenhemmer, einst vom Orthopäden verordnet, bei ihrem Hausarzt gar nicht auf dem Schirm, nimmt sie weiter.
„Deshalb ist es wichtig, dass Ärzte mit ihren Patienten regelmäßig die Medikationspläne durchgehen und sich fragen, ob bestimmte Mittel noch nötig sind“, sagt Petra Thürmann (siehe Interview). Das dies viel zu selten geschieht, zeigt eine aktuelle Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
Demnach verordneten Ärzte im Jahr 2022 rund 8,3 Millionen älteren Menschen mindestens einmal ein potenziell inadäquates Medikament, das zu unerwünschten Wechsel- oder Nebenwirkungen führen kann. Das heißt: Jeder zweite Patient (50,3 %) ab 65 Jahren war betroffen. 43 Prozent der Versicherten in dieser Altersgruppe wurden mit mehr als fünf verschiedenen Wirkstoffen gleichzeitig behandelt. Bei Frauen ist der Anteil der PIM deutlich höher als bei Männern. Grundlage der Auswertung sind die 16,4 Millionen älteren GKV-Versicherten und Arzneimittel, die in der PRISCUS-2.0-Liste verzeichnet sind.
Arbeitshilfe für Praxisteams
WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder sagt: „Wir haben bei diesem Thema kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“ Medikamentennebenwirkungen wie Müdigkeit, Blutdruckabfall oder Sehstörungen „können zu Stürzen oder kognitiven Einbußen führen und in manchen Fällen sogar lebensbedrohlich sein“, warnt Schröder.
Erfreulich sei daher, dass der Verordnungsanteil der potenziell inadäquaten Medikation in den vergangenen zehn Jahren zurückgegangen ist: Hatte der Verordnungsanteil dieser Arzneimittel an allen verordneten Arzneimitteln bei älteren Menschen im Jahr 2013 noch bei 14,6 Prozent gelegen, so lag er 2022 bei 12,3 Prozent.
Um weiterhin den Wissenstransfer in die Praxis zu fördern, hat das WIdO eine kompakte Zusammenfassung der PRISCUS-2.0-Arzneimittel als Arbeitshilfe für Ärztinnen und Ärzte erstellt. Sie kann im AOK-Gesundheitspartner-Portal heruntergeladen werden. Schröder verwies zudem auf die kostenlose Bereitstellung der kompletten PRISCUS-2.0-Liste durch das WIdO.
Das Projekt PRISCUS 2.0 zielt darauf, die Arzneimitteltherapie bei älteren Menschen zu optimieren und unerwünschte Arzneimittelereignisse zu reduzieren. Sie baut auf der im Jahr 2010 in Deutschland erstellten ersten PRISCUS-Fassung auf. Ein interdisziplinäres Team aus Wissenschaft und Praxis hat 2022 diese Liste auf den aktuellen Erkenntnisstand erweitert. Zu den potenziell unangemessenen Medikamenten gehören neben Magenschutzpräparaten, Schmerzmittel, Antidepressiva und Medikamente bei Blasen- oder Prostatabeschwerden.
Die PRISCUS-2.0-Liste von der AOK kompakt zusammengefasst: www.aok.de/gp/priscus
Weitere Infos und die komplette Liste: www.priscus2-0.de