Kooperation | In Kooperation mit: AOK-Bundesverband

Interview zur Bundestagswahl

„Wir brauchen niedrigschwellige Primärversorgung“

Die AOK hat ihre Positionen für die nächste Legislaturperiode formuliert. Die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann, über die Bilanz von Karl Lauterbach und über die Forderungen der AOK-Gemeinschaft an die nächste Regierung.

Von Peter Willenborg Veröffentlicht:
Dr. Carola Reimann ist seit Januar 2022 Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes.  Von 2017 bis 2021 war sie Niedersächsische Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung.

Dr. Carola Reimann ist seit Januar 2022 Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. Von 2017 bis 2021 war sie Niedersächsische Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung.

© [M] AOK-Bundesverband

Frau Dr. Reimann, welche Bilanz ziehen Sie nach drei Jahren Ampel-Regierung in puncto Gesundheitspolitik?

Minister Lauterbach lag in der Problemanalyse oft richtig und hat viel angekündigt, aber letztlich ist davon relativ wenig übrig geblieben. Viele wichtige Gesetzesvorhaben sind immer wieder verschoben worden, Karl Lauterbach hat sich bei vielen Themen verzettelt. Am Ende waren viele Reformbälle gleichzeitig in der Luft, die dann alle hinten heruntergefallen sind. Um einige ist es nicht schade – besonders um das inhaltlich mehr als zweifelhafte Herz-Gesetz.

Andere Reformen, wie die Verabschiedung des Notfallgesetzes oder die Reform des Rettungsdienstes mit dem Aufbau zentraler Leitstellen, wären dringend notwendig gewesen. Und bei grundlegenden und immens wichtigen Fragen wie der zukunftsfähigen und nachhaltigen Finanzierung von GKV und Pflegeversicherung ist es gar nicht vorangegangen – trotz vollmundiger Versprechen im Ampel-Koalitionsvertrag.

Was hat Bundesgesundheitsminister Lauterbach gut gemacht?

Seine größte Leistung ist sicherlich die Umsetzung der Krankenhausreform. Zumindest haben wir jetzt endlich ein solides Gesetz, das den Rahmen vorgibt – wobei allerdings die fünfzigprozentige Finanzierung des Krankenhaus-Transformationsfonds durch die GKV aus ordnungspolitischer Sicht nicht akzeptabel ist und die GKV angesichts der ohnehin prekären Finanzlage vor riesige Probleme stellt.

Ob die Reform in Bezug auf die Neuordnung der Strukturen und die gewünschten Qualitätseffekte Wirkung entfaltet, hängt zudem sehr stark von der konkreten Ausgestaltung in Rechtsverordnungen ab, die noch ausstehen. Hier werden zum Beispiel die neuen Leistungsgruppen für die Krankenhäuser genau definiert.

Jetzt schauen alle auf die nächste Legislatur. Was sind die wichtigsten Forderungen der AOK im Bereich der ambulanten Versorgung?

Im Zentrum unserer Forderungen steht die Schaffung einer patientenorientierten und niedrigschwelligen Primärversorgung mit sektorenübergreifenden Elementen. Dabei sollten auch die Krankenhäuser einbezogen werden. Diese Primärversorgung darf kein Add-on zur bestehenden hausärztlichen Versorgung sein, sondern sollte diese mit umfassen. Und sie sollte interprofessionell und teambasiert aufgestellt werden. So ist es dringend notwendig, dass wir neben den Ärztinnen und Ärzten auch andere Professionen wie Pflegefachpersonen, besonders qualifizierte Medizinische Fachangestellte oder Physician Assistants in die Versorgung einbeziehen.

Um die nötigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, muss auch die Vergütung im EBM an diesen teamorientierten Versorgungsansatz angepasst werden.

Was hätte eine solche Primärversorgung für Vorteile gegenüber der aktuellen Situation?

Sie kann nicht nur die kurative Behandlung verbessern, sondern auch die Prävention stärken. Zudem können wir Patientinnen und Patienten – insbesondere vulnerable Gruppen wie chronisch Kranke – viel besser durch das System steuern, wenn wir vernetzte und aufeinander abgestimmte Strukturen schaffen. Die GKV-Versicherten müssen in Zukunft einen besseren und diskriminierungsfreieren Zugang zur ambulanten Versorgung bekommen, insbesondere zu Facharzt-Terminen.

Wie soll ein besserer Zugang zu fachärztlichen Terminen konkret funktionieren?

Wir brauchen eine verpflichtende Meldung von Arztterminen an die Terminservicestellen und verbindliche Vorgaben für die Online-Terminvermittlung. Zudem sollten auch die Krankenkassen die Möglichkeit bekommen, Termine für ihre Versicherten zu vermitteln. Dazu brauchen wir eine gebührenfreie Schnittstelle zum elektronischen Terminsystem.

Im Bereich der Versorgungsverträge wünschen Sie sich wieder mehr Beinfreiheit für die Kassen. Was sind hier Ihre konkreten Forderungen?

Es kann nicht sein, dass die Kassen zu Hausarztverträgen verdonnert werden, die sie gar nicht wollen. Die Freiwilligkeit dieser Verträge muss wieder eingeführt werden. Und die unbegrenzte Fortgeltung von bereits gekündigten Verträgen sollte abgeschafft werden.

Die AOK setzt sich auch dafür ein, Krankenhausfälle in die ambulante Versorgung zu verlagern. Wie soll das funktionieren?

Es ist inzwischen sehr gut belegt, dass wir in Deutschland Millionen von vermeidbaren Krankenhaus-Aufenthalten haben. Viele der Fälle, die in Deutschland im Krankenhaus landen, werden in anderen Ländern ambulant versorgt. Das könnten wir auch, ohne dass es zu Qualitätsverlusten kommt. Allerdings darf die Ambulantisierung nicht dazu führen, dass Vertragsärzte nur noch lukrative ambulante Op durchführen und sich nicht mehr ausreichend in der Grundversorgung engagieren. Daher schlagen wir vor, dass die Vergütung ambulanter Op im vertragsärztlichen und im stationären Bereich angeglichen wird – und zwar auf Basis des EBM.

Zugleich brauchen wir einen gesetzlichen Auftrag zur Entwicklung eines sektorengleichen Vergütungssystems für ambulantisierbare Leistungen, das auf den Echtkosten in Kliniken und Arztpraxen basiert.

Sie schlagen sogenannte sektorenübergreifende Versorger vor. Was hat es damit auf sich?

Viele Patientinnen und Patienten brauchen nach einer Krankenhaus-Behandlung zwar Pflege, aber nicht mehr das volle Krankenhaus-Programm mit intensiver ärztlicher Versorgung. Für solche Fälle sollte es sektorenübergreifende Versorgungseinrichtungen geben, die an der Schnittstelle von ambulanter und stationärer Versorgung für die nötige medizinisch-pflegerische Betreuung der Menschen sorgen. Die Patientinnen und Patienten sollten dann je nach ihrem Versorgungsbedarf ganz gezielt in diese Einrichtungen gesteuert werden, um den berühmten Drehtür-Effekt zu verhindern und die Beschäftigten in den Krankenhäusern zu entlasten.

Lassen Sie uns zum Schluss über die Digitalisierung im Gesundheitswesen reden. Stichwort: ePA für alle. Was ist in diesem Bereich noch zu tun?

Die Einführung der ePA für alle ist ein wichtiger Meilenstein. Diesen Erfolg kann sich Karl Lauterbach auf die Fahnen schreiben. Allerdings ist der Zugang zur Patientenakte für die Versicherten nach wie vor sehr kompliziert. Hier sollte noch nachgebessert werden. Wir halten zum Beispiel eine zentrale Bürger-ID für sinnvoll, die Zugang zu allen möglichen Services ermöglicht, statt im Gesundheitsbereich parallele digitale Identitäten zu nutzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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