Interview zum „Qualitätsatlas Pflege“
„Wir wollen Akteure für die Probleme sensibilisieren“
Der aktuelle Qualitätsatlas Pflege folgt einem neuen Ansatz. Er nutzt erstmals die Routinedaten von Kranken- und Pflegeversicherung zur Qualitätsmessung. Antje Schwinger vom WIdO erläutert die Methode.
Veröffentlicht:Frau Dr. Schwinger, im Qualitätsatlas Pflege hat das WIdO die Versorgungsqualität in Pflegeheimen analysiert, die Ergebnisse geografisch zusammengefasst und bundesweit in Landkreisen verglichen. Die Resultate der einzelnen Heime fehlen. Warum?
Grundsätzlich sind wir methodisch und von den Daten her in der Lage, Pflegequalität einrichtungsbezogen abzubilden. In einem Vorgängerprojekt hatten wir das auch umgesetzt und gezeigt, dass erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Pflegeheimen existieren. Diesmal haben wir uns für eine andere Ebene entschieden.
Welcher Prämisse folgt dieser Blick?
Der Annahme, dass Pflegequalität nicht nur abhängig ist von den Bedingungen in einzelnen Einrichtungen, sondern auch von der medizinischen Infrastruktur, von wirtschaftlichen Voraussetzungen, dem Fachkräfteangebot und politischen Gegebenheiten in der Region. Ein Vergleich auf Kreisebene soll alle für die Pflege relevanten Akteure für die Probleme sensibilisieren und einbeziehen: Niedergelassene, KVen, Krankenhauspersonal und Pflegekassen, aber auch Landräte und Kreistagsabgeordnete.
Kommunen haben keine gesetzliche Verantwortung für die Pflegequalität. Wieso adressieren Sie auch die politische Ebene?
Richtig ist, dass besonders die Leistungserbringer und Pflegekassen gefragt sind. Aber: Politisch Verantwortliche können Probleme sichtbar machen – und das wäre ein wichtiger Schritt in einer Zeit, in der vor allem über Pflegekosten und weniger über Pflegequalität diskutiert wird.
„Qualitätsatlas Pflege“
Aktuelle WIdO-Analyse: Heim-Qualität hängt vom Wohnort ab
Ein Vergleich auf Kreisebene schließt ein Pflegheim-Ranking nicht aus. Gerade für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen wäre das hilfreich. Und Heimleitungen können nur Konsequenzen ziehen, wenn sie wissen, wie sie konkret abgeschnitten haben.
Wir müssen hier unterscheiden. Dass auch Pflegeheime ebenso wie die Betroffenen und Angehörigen diese Informationen erhalten, das ist auch unser Ziel. Wir wollen jedoch auch vermeiden, dass sich Heimleitungen mit Optimierungsbedarf angegriffen fühlen – eben auch, weil Faktoren existieren, die sie nicht allein beeinflussen können. Beispielsweise nützt es erst einmal wenig, wenn wir einem Pflegeheim eine Unterversorgung in bestimmten Bereichen attestieren, die Heimleitung aber gar nicht auf entsprechende Fachkräfte zurückgreifen kann. Dem WIdO geht es mit dieser Analyse aber gerade um einen Impuls in Richtung sektorenübergreifende Qualitätssicherung. Wir planen ein Folgeprojekt, bei dem wir mit einzelnen Einrichtungen und den versorgenden Ärzten zusammenarbeiten.
Können Sie schon Details verraten?
Der geplante Start ist im April 2024. Über eine Dauer von dreieinhalb Jahren übermitteln wir die im aktuellen Pflegereport präsentierten Qualitätsindikatoren an 40 Pflegeheime in Bayern. Unser Ziel ist es, dass sich Pflegedienstleitungen, Pflegepersonal und Qualitätszirkel der im Heim behandelnden Hausärzte über die Ergebnisse austauschen. Wir erhoffen uns von diesem Forschungsprojekt Erkenntnisse darüber, wie sich die Informationen am besten in die Praxis übertragen lassen. Außerdem suchen wir Antworten auf die Frage: Was benötigen die Pflegeheime für Rahmenbedingungen, um die Probleme angehen zu können?
Wie wird dieses Projekt praktisch umgesetzt?
Es wird eine webbasierte Plattform geben, auf der wir Pflegekräften und Ärzten zunächst unsere Daten zur Verfügung stellen. In einem zweiten Schritt befragen wir alle Beteiligten mit Hilfe von Evaluationsbögen, ob und welche Veränderungen die Informationen angestoßen haben. Gefragt wird auch, was positiv und was negativ ist oder wo nachadjustiert werden muss. Natürlich werden wir auch messen, ob sich die Versorgungsqualität bei speziellen Indikatoren verändert hat.
Der aktuelle Qualitätsatlas enthält zehn Qualitätsindikatoren in drei Kategorien. Eine Kategorie ist „Kritische Arzneimittelversorgung“. Darunter fallen Dauerverordnungen von Antipsychotika, Beruhigungs- und Schlafmitteln und der Einsatz potenziell inadäquater Medikamente für Ältere. Diese Versorgungsanteile verantworten Ärzte; Pflegepersonal ist nicht zuständig. Warum sind Ihnen diese Aspekte dennoch wichtig?
Faktisch verordnen Ärzte, das stimmt. Aber wir wissen, dass die Pflegekräfte häufig ebenso in die Prozesse involviert sind, die Medikamente sozusagen für die Bewohnenden nachfragen und auf die Verordnung hinwirken. Studien zeigen für alle der entwickelten Indikatoren, dass die Awareness darüber, wann ein Einsatz kritisch ist, bei Ärzten und Pflegekräften bestehen muss, damit Veränderung zu beobachten sind.
Ein anderes Qualitätskriterium bezieht sich auf die Anzahl der Dehydrationen bei Demenz. Welchen Einfluss haben Ärzte, die Pflegeheimbewohner behandeln, auf diesen Faktor?
Dehydration ist ja erst einmal durch gute Pflege zu vermeiden, vor allem durch regelmäßige Trinkroutinen. Gleichwohl spielt mit Blick auf eine Krankenhauseinweisung aufgrund von Dehydration die ärztliche Versorgung auch eine entscheidende Rolle, denn durch Gabe von subkutaner oder intravenöser Flüssigkeit kann die Überweisung vielleicht vermieden werden. Dafür muss aber ein Arzt oder eine Ärztin erreichbar sein und dann auch zeitnah ins Pflegeheim kommen. Dehydration ist zu Recht als ein „pflegeheimsensitiver Krankenhausaufenthalt“ klassifiziert worden.
Vermeidbare Krankenhausaufenthalte sind ebenfalls eine Kategorie für die Qualitätskriterien. Welche Einweisungen wären denn vermeidbar?
Neben dem schon erwähnten Grund Dehydration haben wir sturzbedingte Krankenhausaufenthalte im Blick. Auch solche Stürze resultieren nicht selten aus potenziell inadäquaten Medikamenten. Ein weiterer Punkt sind Krankenhausaufenthalte am Lebensende. Die reißen Menschen oft unnötigerweise aus ihrer gewohnten Umgebung.
Können zehn Indikatoren die Pflegequalität spiegeln?
Nein. Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für uns ist das ein Prozess, in dem wir die Zahl der Indikatoren kontinuierlich erweitern. Entscheidend ist, dass sich ein Indikator mit Routinedaten abbilden lässt – also mit standardisierten Informationen, die obligatorisch erhoben werden, meist zu Abrechnungszwecken. Leider lassen sich nicht alle relevanten Versorgungsprobleme mit Routinedaten abbilden.
Welche zum Beispiel nicht?
Ein großes Thema in Pflegeheimen sind Hörminderungen, das heißt eine Unterversorgung mit Hörhilfen. Wie umfangreich der Bedarf ist, können wir mit Routinedaten nicht erfassen, da die ärztliche Diagnose sich viel zu selten findet. Außerdem liegen die Ergebnisse von Hörtests, falls sie denn erfolgen, nicht in den Abrechnungsdaten der Kassen vor.
Die Qualität von Pflegeheimen kontrolliert bereits der Medizinische Dienstes (MD). Warum braucht es die im Qualitätsatlas Pflege präsentierten Indikatoren?
Die Indikatoren, die wir nun erst einmal regional über den Qualitätsatlas veröffentlichen, sind ein zusätzliches Instrument. Sie messen andere Bereiche als der MD, der einmal im Jahr rein pflegebezogene Indikatoren prüft. Wir beleuchten dagegen die Schnittstellen zwischen Pflegeheim, Arztpraxis und Krankenhaus. Kooperation und Koordination aller an der Pflege Beteiligten – das sind für uns die relevanten Punkte. Routinedaten sollten also auch in die gesetzliche Qualitätssicherung einfließen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.