Experten alarmiert

Jeder siebte Jugendliche verletzt sich selbst

Sie schneiden sich selbst mit Rasierklingen, Messern oder Scherben: Immer mehr Jugendliche fügen sich Verletzungen zu, zeigt eine Studie in den USA. Auch deutsche Experten sind alarmiert. Denn Selbstverletzungen sind ein starkes Signal für Suizid-Gefahr.

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Selbstverletzungen sind für manche Jugendliche eine Art Strategie, um Probleme oder schmerzliche Erlebnisse zu bewältigen.

Selbstverletzungen sind für manche Jugendliche eine Art Strategie, um Probleme oder schmerzliche Erlebnisse zu bewältigen.

© Adamus / fotolia.com

NEU-ISENBURG. Seit den neunziger Jahren häuft sich bei Jugendlichen in Industrieländern selbst verletzendes Verhalten (SVV). In Deutschland fügt sich etwa jeder siebte Heranwachsende pro Jahr selbst Verletzungen zu, jeder 25. mehrmals, schätzen Experten (www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org).

Zumindest in den USA nimmt SVV seit Jahren deutlich zu, belegt jetzt eine Studie. So gab es 2008 in Notaufnahmen von US-Kliniken etwa doppelt so viele Minderjährige mit solchen Traumata wie 1993, berichten Pädiater um Dr. Gretchen Cutler von der Minnesota-Kinderklinik in Minneapolis (Pediatrics 2015; online 15. Juni).

Dieser Trend hat sich in den USA nun auch für die Folgejahre bestätigt. Das Team um Cutler hat die Nationale Traumadatenbank (NTDB) nach Selbstverletzungsdiagnosen von 2009 bis 2012 ausgewertet.

Die Pädiater fanden knapp 287.000 Einträge bei 10- bis 18-Jährigen, bei 3664 (1,3 Prozent) war eine Selbstverletzung als Grund für den Besuch der Notaufnahme vermerkt worden.

Dieser Anteil ist signifikant von 1,1 Prozent im Jahr 2009 auf 1,6 Prozent im Jahr 2012 gestiegen. Die Pädiater warnen: Patienten mit ernsten Selbstverletzungen laufen Gefahr, in Folge einen Suizid zu begehen. Sie sollten daher besonders intensiv betreut werden.

Psychische Leiden oft unerkannt

Nach der Analyse sind mehr als 70 Prozent der Betroffenen männlich, 60 Prozent 15 bis 18 Jahre alt, und die allermeisten (86 Prozent) haben keine bekannten Begleiterkrankungen. Nur bei knapp 5 Prozent ist eine psychische Erkrankung vermerkt, zumeist eine Depression.

Die Studienautoren vermuten, dass die Prävalenz psychischer Störungen deutlich zu niedrig angegeben wird. In Studien, in denen Minderjährige mit Selbstverletzungen gründlich untersucht worden waren, konnten Ärzte bei jedem zweiten eine psychische Störung feststellen.

Die Pädiater plädieren daher für eine solche Untersuchung bei Selbstverletzungen. In der US-Studie hatten Minderjährige mit SVV im Mittel schwerere Verletzungen als solche mit anderen Gründen für ein Trauma.

Der Anteil mit Polytrauma (Injury Severity Score ab 16 Punkte) lag bei ihnen deutlich höher als bei Verletzungen mit anderer Ursache (24 versus 18 Prozent).

Noch drastischer waren in der Studie die Unterschiede bei der Mortalität: 4,3 Prozent starben in ärztlicher Behandlung oder auf dem Weg dahin, nur 0,8 Prozent und damit fünfmal weniger waren es bei Minderjährigen mit anderen Verletzungsursachen.

Ursache oft Übergewicht

Besonders Mädchen fügen sich häufig Schnitt- und Stichverletzungen an Armen und Beinen sowie im Bereich von Brust und Bauch zu, und zwar mit Messern, Rasierklingen, Scherben oder Nadeln ("Ritzen"). In den USA wählte ein Drittel der Jungen Schusswaffen, allerdings mit abnehmender Tendenz.

Risikofaktoren für SVV waren Alkoholprobleme und starkes Übergewicht. Solche Probleme traten bei den Betroffenen zum Teil doppelt so häufig auf wie bei Minderjährigen mit anderen Trauma-Ursachen.

Viele Jugendliche mit SVV haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu kontrollieren, berichten deutsche Experten (www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org). Die Betroffenen bauen damit innere Spannung ab, oder sie wollen sich selbst bestrafen.

Negative Gefühle wie Einsamkeit, Angst oder Aggression lassen sich durch SVV offenbar abschwächen. Für manche Jugendliche ist das auch eine Art Bewältigungsstrategie, mit Problemen oder schmerzlichen Erlebnissen umzugehen. SVV trat in der Vergangenheit vorwiegend bei jungen Frauen auf.

Ähnlich wie in der aktuellen US-Studie nimmt das Phänomen aber generell bei männlichen Jugendlichen zu. Als Risikofaktoren gelten SVV bei Freunden oder in der Familie, psychische Erkrankungen sowie frühe Aufnahme von Sexualkontakten.

Auch eine andere Ursache wird diskutiert: Bei der Verletzung schüttet der Körper Endorphine aus, die zunächst Schmerzen unterdrücken. Die Freisetzung der körpereigenen Opioide kann möglicherweise ein Bedürfnis nach Wiederholung wecken. (mut/eis)

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