Radikale MS-Therapie

Lässt sich Multiple Sklerose durch Zerstörung des Immunsystems heilen?

Ärzte können offenbar MS durch einen kompletten Neustart des Immunsystems heilen. Allerdings ist die Methode sehr riskant; Patienten können sterben. Ist sie nur bei der frühen Erkennung eine gute Wahl?

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Bei MS entzündet sich äußere Schicht der Nervenzellen. Ein "Reboot" des Nervensystems kann die Krankheit anscheinend heilen.

Bei MS entzündet sich äußere Schicht der Nervenzellen. Ein "Reboot" des Nervensystems kann die Krankheit anscheinend heilen.

© ktsdesign / fotolia.com

Ein wirksames Mittel gegen MS? Davon träumen vor allem Patienten, die schon lange mit dem Leiden leben und bereits die progrediente Phase der Erkrankung erreicht haben. Für sie gibt es in der Tat kaum wirksame Optionen. Es häufen sich jedoch Hinweise, nach denen eine MS tatsächlich heilbar ist - wenn nur früh und aggressiv genug behandelt wird.

So zeigten in einer aktuellen Studie 70 Prozent der Patienten nach einer kompletten Immunablation und anschließender Stammzelltransfusion über rund sieben Jahre hinweg keine neuen MS-Zeichen: keine Schübe, keine neuen oder sich erweiternden MRT-Läsionen, keine Behinderungsprogression, keine übermäßige Hirnatrophie - kurz: nichts, was noch auf eine aktive MS deutet.

Selbst lange bestehende Behinderungen bildeten sich bei einem großen Teil der Patienten zurück. Sind solche MS-Kranke nun tatsächlich geheilt?

Vorläufige Schlüsse

Diese Frage wird sich wohl erst in vielen Jahren beantworten lassen, schließlich weiß niemand, ob die MS nicht beim einen oder anderen Patienten nach Jahren zurückkehrt. Auch war die Studie mit gerade einmal 24 Patienten recht klein. Es spricht aber vieles dafür, dass mit dieser Methode eine Heilung möglich ist. So traten bei keinem der Patienten neue Schübe auf, auch wurden keine neuen MRT-Läsionen beobachtet. Sämtliche entzündliche Aktivität im Gehirn war offenbar ausgelöscht.

Dass die Krankheit dennoch bei 30 Prozent der Patienten voranschritt, bestätigt die aktuelle Hypothese, nach der im späteren Verlauf der MS lymphozytenbasierte Entzündungsprozesse kaum noch von Bedeutung sind. Hier haben sich neurodegenerative Prozesse verselbstständigt, die auf Immunmodulatoren und damit wohl auch auf eine Immunablation nicht mehr ansprechen.

Ist der Schlüssel zum Erfolg der frühe Beginn der Therapie

Überraschend ist daher eher, dass die radikale Therapie in der kleinen kanadischen Studie bei so vielen Patienten gewirkt hat - immerhin die Hälfte war schon an einer sekundär-progredienten MS erkrankt, wenngleich mit hoher entzündlicher Aktivität und überlagerten Schüben.

Die sich aufdrängende Frage lautet folglich: Ließe sich die MS komplett stoppen, wenn der Neustart des Immunsystems nur früh genug erfolgt? In diesem Fall hätten wir schon heute eine Methode, um MS zu heilen.

Hohe Mortalität bei kompletter Immunablation

Allerdings zahlen die Patienten bei dieser Methode einen so hohen Preis, dass sich niemand trauen würde, eine komplette Immunablation bei MS-Kranken zu erwägen, die nicht mit konventionellen Methoden austherapiert sind: In der Studie starb einer der Patienten an den Folgen der Behandlung, ein weiterer hat nur knapp überlebt, andere mussten sich lange mit den toxischen Nebenwirkungen hochdosierter Chemotherapeutika herumschlagen.

Das führt zu einem gewissen Dilemma: Patienten, deren Schübe sich mit bisherigen Therapeutika einigermaßen kontrollieren lassen, wird man diese Prozedur kaum zumuten. Hat die MS jedoch eines Tages die progrediente Phase erreicht, wirken weder die bisherigen Mittel noch die Immunablation.

Das Problem ist durchaus nicht neu. Schon lange ist klar, dass MS-Schübe nur die sicht- und spürbaren Manifestationen der Erkrankung sind - auch ohne Schübe läuft der Entzündungsprozess unterschwellig im Gehirn weiter. Das neue Therapieziel heißt daher "No Evidence of Disease Activity" (NEDA).

NEDA schließt neue MRT-Läsionen und eine Behinderungsprogression aus. Viele Therapiestudien deuten inzwischen auf NEDA-Raten, die umso höher sind, je früher und aggressiver behandelt wird.

Und dies hat jetzt schon zu einem massiven Wandel in der MS-Therapie geführt. Vom Konzept der Eskalationstherapie haben sich MS-Spezialisten weitgehend verabschiedet, zunehmend lautet die Devise auch hier: Hit hard and early. Bis dieses Konzept in die Praxis durchsickert, dürfte noch etwas Zeit vergehen, aber an NEDA als Therapieziel führt kein Weg mehr vorbei.

Selektive Immunablation mit Antikörpern eine Option

 Auf konventionelle Weise lassen sich die höchsten NEDA-Raten - wen wundert's - mit einer Art selektiven Immunablation erreichen. So können therapeutische Antikörper gezielt bestimmte B- und T-Zellpopulationen auslöschen. Das sich rekonstituierende Immunsystem ist dann im Optimalfall frei von autoaggressiven Lymphozyten.

Der Ansatz ist bereits mit Alemtuzumab verfügbar. Der Antikörper richtet sich gegen B- und T-Zellen, in der Regel genügen zwei Therapiezyklen, um die Krankheitsaktivität über Jahre hinweg einzudämmen. Ocrelizumab löscht selektiv B-Zellen aus und wird ebenfalls bald erhältlich sein.

Viele weitere zielgerichtete Antikörper sind in der Entwicklung. Mit solchen Mitteln lassen sich NEDA-Raten von rund 30 bis 50 Prozent über zwei bis fünf Jahre erreichen. Das ist zwar noch immer viel weniger als mit einer kompletten Immunablation, allerdings muss unter einer Antikörpertherapie auch niemand um sein Leben fürchten.

Bei progredienter MS ohne Schübe zeigen jedoch auch die neuen Therapeutika kaum eine Wirkung - das spricht erneut für einen möglichst frühen Therapiebeginn.

Ein Heilmittel gegen MS könnte folglich aus einer selektiven Immunablation bestehen, die möglichst früh im Krankheitsverlauf alle autoaggressiven Immunzellen vernichtet, aber das übrige Immunsystem in Ruhe lässt. Dies ist längst kein Wunschdenken mehr, die Forschung ist hier auf einem guten Weg.

thomas.mueller@springer.com

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Kommentare
Thomas Georg Schätzler 12.07.201623:32 Uhr

Persönliches Statement!

Vermutlich ist hier die Publikation "Immunoablation and autologous haemopoietic stem-cell transplantation for aggressive multiple sclerosis: a multicentre single-group phase 2 trial" von Harold L Atkins et al. aus dem LANCET gemeint.
http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(16)30169-6/fulltext

Statt von Schlussfolgerungen ist im Abstract von "Interpretation" zu lesen. So, als hätte man einen regelrechten "Neglect" gegenüber fast 30 Prozent der Versuchspersonen und dem einem Todesfall unter laufender Therapie, die davon nicht entscheidend profitieren konnten ["Interpretation - We describe the first treatment to fully halt all detectable CNS inflammatory activity in patients with multiple sclerosis for a prolonged period in the absence of any ongoing disease-modifying drugs. Furthermore, many of the patients had substantial recovery of neurological function despite their disease''s aggressive nature."]

Niemand kann zu Beginn der ersten, vielleicht noch diskreten Symptome einer Multiplen Sklerose (MS), die zudem manchmal erst sehr spät nosologisch zugeordnet werden können, auf die nachfolgende Progredienz und Aggressivität des eher schubartigen zukünftigen Krankheitsverlaufs schließen.

Dies unterscheidet sich wesentlich z. B. von der Primärtherapie des hochmalignen Non-Hodgkin-Lymphoms (NHL), mit Hochdosis-Chemotherapie, Stammzellen-Separation, Knochenmarkablation und autologer Stammzelltransplantion. Denn jedes kontempative Abwarten würde den sicheren Tod des Patienten bedeuten.

Aus eigener Betroffenheit mit einem hochmalignen Non-Hodgkin-Lymphom im Jahr 2000 und dem o.g. Procedere 5 Tage nach Diagnosestellung weiß ich, wie dramatisch und bedrohlich septische Komplikationen im Leukozyten-Nadir sein können. Ein Rezidiv (es gab noch einen niedrig malignen NHL-Anteil) im Jahr 2007 konnte mit einer 4-maligen CHEOP-Standard-Chemotherapie und Rituximap-Anwendungen bis heute ausgeheilt werden.

Einige meiner Patientinnen und Patienten mit MS werden mit großem klinischen Erfolg mit "Biologicals" therapiert; in der Nähe meiner Hausarztpraxis befindet sich eine neurologische Schwerpunktpraxis. Das sollte man berücksichtigen, bevor man über Chancen, Risiken und nur 70-prozentige Erfolgsrate einer kompletten Immunablation und anschließende Stammzelltransfusion nachdenkt.

Das Dilemma der Frühdiagnose, Maximalintervention vs. konventionelle Therapie und unsicheren Verlaufs- und Prognose-Abschätzungen bleibt auch und gerade bei der MS ungelöst.

Mf + kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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