Mehnert-Kolumne
Skala verrät das Hypoglykämie-Risiko
NEU-ISENBURG. Mit einem neuen Hypoglykämie-Score lässt sich das Risiko eines Patienten mit Typ-2-Diabetes für Unterzuckerungen abschätzen.
Prof. Hellmut Mehnert
Arbeitsschwerpunkte: Diabetologie, Ernährungs- und Stoffwechselleiden: Diesen Themen widmet sich Prof. Hellmut Mehnert seit über 50 Jahren.
Erfahrungen: 1967 hat er die weltweit größte Diabetes-Früherfassungsaktion gemacht sowie das erste und größte Schulungszentrum für Diabetiker in Deutschland gegründet.
Ehrung: Er ist Träger der Paracelsus-Medaille, der höchsten Auszeichnung der Deutschen Ärzteschaft.
Die Skala haben Dr. Stephan Kress vom Vinzentius Krankenhaus in Landau und seine Kollegen entwickelt und kürzlich vorgestellt.
Es handelt sich dabei um den ersten Score, mit dem sich das individuelle Hypoglykämie-Risiko ermitteln lässt. So kann bei erhöhtem Risiko mit präventiven Maßnahmen den Unterzuckerungen vorgebeugt werden.
Major- und Minor-Kriterien
Mit einem Fragebogen werden spezifische Kriterien abgeklärt und daraus das Hypoglykämie-Risiko ermittelt. Zu den sogenannten Major-Kriterien gehören dabei:
- eine schwere Unterzuckerung mit Fremdhilfe in der Vorgeschichte,
- Unterzuckerungs-Wahrnehmungsstörung,
- schwere Nierenerkrankung,
- Demenz oder eingeschränkte Hirnleistung und
- sehr hohes Alter
Das Hypoglykämierisiko ist bei einem Patienten bereits erhöht, wenn eines dieser fünf Major-Kriterien zutrifft.
Unterzuckerungsgefahr besteht aber auch, wenn mehrere MinorKriterien vorliegen. Dazu gehören:
- Hypoglykämien in der Vorgeschichte,
- leichte Nierenerkrankung,
- Diabetes seit über 10 Jahren,
- Alter über 70 Jahre,
- niedriger BMI (unter 22),
- Autonome Neuropathie,
- Einnahme von über sechs Medikamenten,
- keine Diabetesschulung.
Die Validität des Scores wurde retrospektiv bei 45 Patienten, die wegen einer Hypoglykämie stationär behandelt worden waren, überprüft. Mit einer Anwendung der Skala hätte sich dabei in allen Fällen das drohende Risiko erkennen lassen, hieß es bei der Veranstaltung.
Prävention bei Risikopatienten
Die Anwendung des Scores könnte dazu beitragen, Hochrisikopatienten zu identifizieren und zu "schützen, indem man Medikamente und Insuline verschreibt, die ein geringeres Hypoglykämie-Risiko mit sich bringen" betont Kress im "Diabetes-Journal" (2015; Heft 2, Seite 12).
So sind zum Beispiel langwirkende Insulin-Analoga im Vergleich zu NPH-Insulinen mit weniger Hypoglykämien verbunden. Dies liegt zum einen an dem für NPH-Insulin typischen Wirkungsmaximum, das den Analoga mit ihrem flachen Wirkprofil fehlt.
Zum anderen liegt das aber oft auch an den Patienten, die die trübe NPH-Suspension nicht genügend lang vor der Injektion im Pen schwenken. Ärzte sollten ihren Patienten immer wieder einschärfen, wie notwendig diese Maßnahme ist.
Der italienische Diabetologe Dr. Geremia B. Bolli von der Universität in Perugia spricht deswegen sogar vom "NPH-Brittle-Diabetes", bei dem wegen der fehlerhaften Injektion (ohne Schwenken!) ständig wechselnde Insulinkonzentrationen gespritzt werden.
Sicher gibt es auch einen echten Brittle-Diabetes mit extrem starken Blutzuckerschwankungen, und zwar besonders bei Typ-1-Diabetes. Betroffene sollten dann am besten mit einer Insulinpumpe versorgt werden.
Andererseits gilt aber auch in vielen Situationen der Satz: "The doctors make them brittle". Der US-Diabetologe Elliott Proctor Joslin kritisierte damit Ärzte, die nicht für eine ausreichende Schulung ihrer Patienten sorgen.
Die "Kriterien zur Erfassung des individuellen Hypoglykämierisikos bei Patienten mit Diabetes mellitus - Hinweise für die Einschätzung im klinischen Alltag" gibt es zum Download bei www.bot-leben.de unter "Website für Experten" und "Aktuelles"