Kritisch hinterfragt

Was bringen Psychopharmaka?

Provokante Fragen: Haben Psychopharmaka überhaupt die gewünschte Wirkung? Oder schaden sie am Ende mehr, als sie nutzen? Auf dem DGPPN-Kongress wurde darüber heftig diskutiert.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Schwere Depressionen: Schaden Psychopharmaka dem Patienten mehr als dass sie nutzen?

Schwere Depressionen: Schaden Psychopharmaka dem Patienten mehr als dass sie nutzen?

© elenaleonova / Getty Images

BERLIN. Die Elektrokrampftherapie (EKT) ist unbestritten noch immer die wirksamste Therapie bei schweren Depressionen. Sie beruht wohl im Wesentlichen auf einer Disruption psychopathologischer Prozesse: Der ausgelöste generalisierte Krampfanfall wirkt offenbar wie ein reinigendes Gewitter und bläst auch die trübsten Gedanken weg.

Beim anschließenden Neustart des Gehirns gelangt das von diversen Neurotransmittern geflutete Organ häufig in einen weniger pathologischen Zustand. Ob man sich die Wirkweise der EKT nun so oder anders erklärt, Einigkeit dürfte darin herrschen, dass die Methode eher brachial als spezifisch ist.

Nachdem die vergangenen 90 Jahre an psychopharmakologischer Forschung nichts hervorgebracht haben, das es mit der antidepressiven Wirkung der EKT aufnehmen kann, stellt sich die Frage, wie spezifisch und wirksam Antidepressiva im Besonderen und Psychopharmaka im Allgemeinen sind. Auf dem diesjährigen DGPPN-Kongress gab es dazu auch kritische Stimmen. So sind manche Experten durchaus der Meinung, dass viele der Medikamente in der Psychiatrie den Patienten langfristig mehr schaden als nutzen.

Nicht besser als Übungen an der frischen Luft?

Zu den bekanntesten Antidepressiva-Kritikern zählt zweifellos der Psychologe Professor Irvin Kirsch von der Harvard Medical School in Boston. Mit seinen Metaanalysen legt er immer wieder den Finger in eine schwärende Wunde: Die Unterschiede zwischen Antidepressiva und Placebo sind in den meisten Studien recht gering.

Kirsch stellt zwar die signifikant bessere Wirksamkeit der Antidepressiva gegenüber Placebo nicht infrage, hält sie aber für klinisch irrelevant. Aufgrund möglicher Nebenwirkungen wie Magenblutungen, sexueller Dysfunktion und Insomnie sei ihr Einsatz allenfalls bei schweren Depressionen gerechtfertigt. Patienten sollten seiner Ansicht nach lieber psychotherapeutisch behandelt werden.

Auf dem DGPPN-Kongress legte Kirsch nun nach: Mehr als 80 Prozent der Antidepressiva-Wirksamkeit beruhe auf dem Placeboeffekt. Dies sei inzwischen auch durch eine ganze Reihe von Metaanalysen andere Arbeitsgruppen gezeigt worden. Keine davon habe für Antidepressiva eine klinisch signifikante Wirksamkeit nach den britischen NICE-Kriterien nachweisen können.

Suche nach einem nicht willkürlichen Effektivitätskriterium

Dafür ist eine Verum-Placebo-Differenz von 3 Punkten auf der Hamilton-Depressionsskala (HAM-D) nötig. Kirsch hatte in seinen Analysen aus den Jahren 2002 und 2008 lediglich eine Differenz von 1,8 Punkten gefunden. Genau der Wert, den nun auch eine FDA-Analyse zu über 23.000 einzelnen Patienten ergeben hat. Kritik, das NICE-Kriterium sei willkürlich festgelegt, lässt Kirsch nicht gelten: "Das gilt auch für die Definition der Ansprechrate als mindestens 50 Prozent Symptomreduktion oder der statistischen Signifikanz bei einem p-Wert unter 0,05."

Was, so der Psychologe, könnte ein nicht willkürliches Effektivitätskriterium sein? Er versuchte es mit dem klinischen Gesamteindruck (CGI). Ein Unterschied von bis zu 3 HAM-D-Punkten wird von Ärzten als "keine Veränderung bewertet". Nun ließ sich in machen Studien der HAM-D-Wert unter Antidepressiva um bis zu 14 Punkte senken, was als "stark verbessert" bewertet wird.

Wirkung auch bei Placebo-Patienten

In der Regel hätten sich in solchen Studien jedoch auch die Placebo-Patienten deutlich oder stark verbessert. Über den klinischen Gesamteindruck lasse sich ebenfalls keine klinisch bessere Wirksamkeit als unter Placebo herleiten.

Kirsch bemängelte zudem, dass in Antidepressiva-Studien rund 80% der Patienten ausgeschlossen würden, die in der Praxis üblicherweise solche Medikamenten erhielten. Er verwies stattdessen auf die praxisnahe STAR*D-Studie: Hier sei der HAM-D-Wert im Mittel unter Antidepressiva nur um 6,6 Punkte zurückgegangen, was lediglich einer geringen Verbesserung im CGI entspricht.

Der Psychologe nannte zudem eine Analyse aus dem Jahr 2012, nach der eine Antidepressiva-Behandlung die Symptome nicht stärker reduziere als Psychotherapie, Akupunktur oder Übungen an der frischen Luft.

Erhöhte Rezidivrate nach Absetzen von Antidepressiva

Für besonders problematisch erachtet Kirsch jedoch die erhöhte Rezidivrate nach dem Absetzen von Antidepressiva: In Studien wurden rund die Hälfte der Teilnehmer unter SSRI in den ersten sechs Monaten nach dem Absetzen erneut depressiv, nach dem Absetzen von Placebo hingegen nur 20–30 Prozent und nach dem Ende einer Psychotherapie etwa ein Drittel.

In einer Untersuchung aus dem Jahr 2000 lag die Rückfallrate in einer Gruppe mit körperlichem Training nach zehn Monaten nur bei 8 Prozent, hatten Patienten zu dem Training auch noch einen SSRI erhalten, betrug sie 31 Prozent. Kirsch vermutet, dass es nach dem Absetzen von SSRI zu einem deutlichen Rebound-Effekt kommt.

Spezifische Effekte – nur ein Mythos?

Nicht weniger kritisch setzt sich die britische Psychiaterin Dr. Joanna Moncrieff mit der Wirksamkeit von Antipsychotika und Antidepressiva auseinander. Sie sieht keine ausreichende Evidenz für serotonerge Störungen bei Depressionen oder für dopaminerge Dysfunktionen bei Psychosen. In ihrem aktuellen Buch "The Bitterest Pills" bezweifelt sie, dass Psychopharmaka überhaupt in spezifischer Weise ein gestörtes Transmittergleichgewicht wieder herstellen.

Antipsychotika fahren ihrer Ansicht nach lediglich Hirnsysteme herunter, die eben auch für Psychosen benötigt werden. Eine Disruption, ähnlich brachial wie die EKT, nur eben medikamentös.

Moncrieff spricht hier von einer arzneimittelbasierten Wirksamkeit: Eine psychoaktive Substanz zeigt im Gehirn einen gewissen Effekt, der sich eben auch auf die Psyche auswirkt. Alkohol lindert aufgrund seiner enthemmenden Wirkung soziale Ängste, es gibt aber keine spezifische Wirkung von Alkohol auf diese Ängste.

Dämpfung vegetativer Reflexe

In ähnlicher Weise kann ein starkes Sedativum auch Psychosen lindern, weil es eben auch Erregungszustände dämpft. Anders ausgedrückt: Wer zentrale Funktionsbereiche ausschaltet, reduziert damit auch psychische Symptome. Dies sei jedoch meilenweit von einer spezifischen Wirksamkeit entfernt, wie sie etwa Insulin entfalte.

Die meisten psychoaktiven Substanzen ändern ihrer Auffassung nach lediglich den normalen mentalen Status – mit Auswirkungen auf die Psyche. Die Psychiaterin erinnerte daran, dass die ersten Antipsychotika wie Chlorpromazin zunächst als spezielle Sedativa eingeführt wurden, als "neurologische Inhibitoren", erst später erhielten sie die Bezeichnung "Antipsychotika", was eine spezifische Wirkung bei Psychosen suggeriere.

Tatsächlich hätten solche Medikamente ähnlich wie Alkohol eine ganze Reihe von Effekten: Sie bremsen die körperliche Aktivität, Aufmerksamkeit, Reaktionszeit, Koordination, spontane Aktivität und lähmen das Gedächtnis, sie sedieren, führen zu emotionaler Verflachung und Gleichgültigkeit. Der ursprüngliche Begriff "Neuroleptika" sei daher treffender: Substanzen, die vegetative Reflexe dämpfen und psychische Spannungen lösen.

Schaden kann Nutzen übertreffen

"Ein konstanter Nebel der Lethargie und Gleichgültigkeit. Ich wollte einfach nur herumsitzen und essen", zitierte Moncrieff einen Patienten unter einem Atypikum. Nichtsdestotrotz würden viele Patienten einen solchen Zustand einer Psychose vorziehen und seien froh, die Medikamente zu haben.

Die Psychiaterin gab jedoch zu bedenken, dass bei einer Dauertherapie der Schaden den Nutzen übertreffen könne – auch bei den atypischen Neuroleptika. In einer Langzeitanalyse über 20 Jahre hinweg schnitten Patienten, die solche Medikamente nicht dauerhaft einnahmen, beim sozialen Funktionsniveau deutlich besser ab als solche mit Dauertherapie: Sie hatten häufiger Jobs, seltener Rückfälle und öfter symptomfreie Perioden.

Dies lasse sich nicht nur mit einem Selektionsbias erklären. In einer randomisierten Studie ging es Patienten mit Dauertherapie nach sieben Jahren deutlich schlechter als solchen, bei denen die Medikation nach dem Ende der akuten Phase abgesetzt oder reduziert wurde: Ihr soziales Funktionsniveau war signifikant beeinträchtigt. Interessanterweise war die Rezidivrate nach dem Absetzen kurzfristig verdoppelt, langfristig aber nicht erhöht. Betrachte man dazu die Gefahr extrapyramidaler Störungen oder eines erhöhten Hirnvolumenverlusts unter Antipsychotika, sei es sehr fraglich, ob sich die Medikamente zur Dauertherapie eigneten, erläuterte Moncrieff.

"Wie verzweifelt müssen wir sein?"

Doch was sind die Alternativen? Hier sieht es offenbar düster aus. Professor Gerhard Gründer von der Universität in Aachen zeigte auf dem Kongress ein 100 Jahre altes Foto von psychisch Kranken in Eisbädern. Mit dieser Schocktherapie hatte man damals versucht, Depressiven zu helfen.

Heute erhitzt man sie, sagte er und verwies auf eine aktuelle Publikation zur Hyperthermiebehandlung. "Was tun wir hier eigentlich? Wie verzweifelt müssen wir sein? Keiner glaubt doch ernsthaft, dass die Hyperthermie einen spezifischen antidepressiven Effekt hat."

Gründer nannte eine Reihe weiterer Schockbehandlungen, die es in der Vergangenheit zu zweifelhaftem Ruhm gebracht hatten, etwa die Insulinkomatherapie oder die Lobotomie. "Wir stören damit allenfalls die Hirnfunktion." Ähnlich kritisch sieht der Psychiater Versuche mit Psilocybin und Ketamin. "Ketamin ist doch das beste pharmakologische Modell für eine Schizophrenie, und ausgerechnet damit hoffen wir, eine bessere antidepressive Wirkung zu erzielen als mit den bisherigen Medikamenten?"

Neue Endpunkte für Langzeitstudien!

In unserer Verzweiflung, so Gründer, sei uns jedes Mittel recht, um die Hirnfunktion zu stören und den Hamilton-Score um einige Punkte nach unten zu drücken. Jedoch könne niemand sagen, wie lange die Wirkung anhalte und welche Langzeitfolgen damit in Kauf genommen werden.

Er forderte daher Langzeitstudien und neue Endpunkte, die auch die Lebensqualität und das psychosoziale Funktionsniveau berücksichtigen. Nur so könnten wir feststellen, ob wir über das Niveau von Schocktherapien hinausgekommen sind.

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