Porträt

Rechtsmediziner Olaf Cordes: „Es erschreckt mich, was Menschen einander antun“

Humor hilft auch, wenn man bei der Arbeit mehr mit Toten als Lebenden zu tun hat. Der Bremer Gerichtsmediziner Dr. Olaf Cordes ist dafür das beste Beispiel.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Olaf Cordes vor seinem Arbeitstisch am Bremer Instituts für Rechtsmedizin.

Olaf Cordes vor seinem Arbeitstisch am Bremer Instituts für Rechtsmedizin.

© tristan vankann / fotoetage

Der Sektionssaal im gerichtsmedizinischen Institut Bremen ist ein Ort kühler, blankgescheuerter Endgültigkeit. In der Mitte thront der Sektionstisch mit einem Präparier-Tisch darauf.

Eine Reihe von Scheren, zwei Schöpfkellen, eine Pinzette, ein Messer, mehrere Metall-Stifte, von denen man nicht wissen möchte, wofür sie gut sind und eine rote Kneif-Zange liegen darauf. Sie dient als Rippenschere und kommt aus dem Baumarkt, wo dieses Werkzeug nur ein Zehntel des entsprechenden medizinischen Gerätes kostet.

Das Institut muss sparen. Die Plastikschürzen hängen am Haken. An der Wand eine Tafel, auf der die Gerichtsmediziner bei ihrer Arbeit das Gewicht dessen notieren, was vom Menschen übrig bleibt, nachdem er auf ihrem Sektionstisch gelandet sind: Thymus, Herz, Niere links, Niere rechts, die Lunge – jedes Jota wird vermerkt bis hin zur Haarlänge der Toten.

Humor – nicht Sarkasmus

Eine ernüchternde Bilanz eines Menschenlebens, wäre da nicht das jungenhaft-spitzbübische Lächeln des Institutschefs, Dr. Olaf Cordes. Er zieht den linken Mundwinkel nach oben, wenn ihn etwas amüsiert. Der Witz an der Arbeit eines Gerichtsmediziners liege nicht im Sarkasmus, sondern in seinem Humor, sagt er. „Den Humor braucht er zwar nicht zwingend, aber – wie immer im Leben – hilft er.“

Das scheint auch im Institut der Fall zu sein. Jedenfalls hat irgendein Witzbold in der Toilette ein Schild angebracht; Aufschrift: „Dies ist kein Tatort, Spuren dürfen beseitigt werden.“ Cordes zieht den linken Mundwinkel nach oben. „Das war ich nicht“, sagt er entschuldigend, „das war einer der Präparatoren.“

Dr. Olaf Cordes

  • ist seit Juli 2016 Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Bremen, das er zuvor schon ein Jahr lang kommissarisch geleitet hatte, zuvor war er zehn Jahre lang leitender Oberarzt am selben Institut
  • Medizinstudium in Hamburg
  • 54 Jahre alt
  • verheiratet und Vater von drei Töchtern

Es gebe aber auch Gerichtsmediziner, die Gefahr laufen, durch ihre Arbeit in den Sarkasmus abzudriften, auch er selber sei nicht davor gefeit. „Meine Frau gibt mir dann Bescheid“, sagt er. Einmal habe er eine Wasserleiche auf dem Sektionstisch gehabt, die man nach ungefähr einem Monat aus der Weser geborgen hatte.

Cordes kommt aus Wedel

Das sei dann auch kurz zu Hause Thema gewesen. Seine Familie habe das mitbekommen und da war ihm dann vor seiner Frau und seinen drei Töchtern eine ironische Bemerkung rausgerutscht. „Das fand meine Frau nicht so passend, sie holte mich dann zurück auf den Boden“, sagt er.

Cordes kommt aus Wedel. Das liegt am Hamburger Stadtrand, man hört es. Seine dröge norddeutsche Art kommt besonnen rüber. Er erzählt unumwunden, berichtet vollständig und mit einer gewissen Vorsicht. Man will ja nichts Falsches sagen. Schließlich ist die Presse da.

Ein Skelett ohne Namen

Im Besprechungsraum des Instituts: Die Regale vollgestopft mit schweren Folianten (das sind die gebundenen Sektionsprotokolle aus früheren Jahren, heute wird einfach abgeheftet), in der Mitte ein leicht abgewetzter Tisch und ein paar benutzte Polsterstühle, eine Reihe von PCs, jede Menge Ablagen und ein Skelett ohne Namen.

Es gibt Espresso, der schmeckt wie flüssiger Teer. Ganz kurz fällt einem die Atmosphäre einer Erstsemester-WG ein. „Wir mussten in den letzten Jahren viermal umziehen“, erklärt Cordes das Provisorium. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dann erzählt er, wie sein Haus ins Gerede gekommen ist. Denn in Bremen wird als einzigem Bundesland jeder der jährlich rund 9.000 Toten von dem Gerichtsmediziner und seinem acht-köpfigen Ärzte-Team gesehen und einer qualifizierten Leichenschau unterzogen. So sollten mehr unnatürliche Todesfälle und womöglich Tötungsdelikte ans Licht kommen.

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Man stützte sich dabei auf eine Arbeit des rechtsmedizinischen Instituts der Uni Münster, wonach jährlich 1.200 Tötungsdelikte in Deutschland übersehen werden, weil keine sorgfältige Leichenschau durchgeführt wurde.

„Für die Studie wurden Leichen vor der Einäscherung nochmals gründlicher untersucht, wobei eine Reihe von Tötungsdelikten entdeckt wurde. Diese Zahlen wurden dann auf Deutschland hochgerechnet, und so kam man auf die 1.200 unentdeckten Delikte im Jahr“, berichtet Cordes.

So erinnert er sich an einen Fall, wo aus der Kleidung einer Leiche, die nach der Leichenschau vom Bestatter abtransportiert worden war, plötzlich eine Pistole zu Boden fiel. Bei näherer Betrachtung des Leichnams fiel auf, dass er einen Schuss durchs Herz hatte. Eine qualifizierte Leichenschau hätte die Todesursachen gewiss eher entdeckt.

Aber das sind Ausnahmen. Tatsächlich ist in den sechs Jahren, in denen 56.808 Tote einer qualifizierten Leichenschau unterzogen wurden, nur ein einziges Tötungsdelikt aufgedeckt worden.

Vorbild Sauerbruch

Obwohl Cordes sich Ferdinand Sauerbruch zum Vorbild genommen hat, strahlt er wenig von dessen krachlederner Autorität aus. Cordes ist 54, trägt Glatze und randlose Brille. Er steckt in dunklen Funktionshosen und einer dunklen Fleece-Jacke, am Handgelenk ein dickes Chronometer.

Kein Arzt, Typ Sauerbruch. Aber das Heroische des genialen Berliner Chirurgen und die Absicht, für den Beruf zu leben, „haben mich schon ein bisschen geprägt“, sagt der Gerichtsmediziner.

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Allerdings wird das Heroische dann doch oft vom Alltag verschlungen. Wenn man zum Beispiel im Krematorium 20 Leichen sieht, stellt sich durchaus eine gewisse Routine ein. Da dürfe man dann die einzige Unregelmäßigkeit nicht übersehen.

Wie entspannt man da noch? Früher ist er gern in den Bergen gewandert. Aber die sind von Bremen aus zu weit weg für Spritztouren. Und heute? „Beim Triathlon“, sagt er. Er sei sportlich, das erklärt seinen Händedruck. Wie ein Hufschmied.

Das Institut muss sparen, die Ausstattung des Pausenraums
versprüht auch deshalb eher Retro-Charme.

Das Institut muss sparen, die Ausstattung des Pausenraums versprüht auch deshalb eher Retro-Charme.

© tristan vankann / fotoetage

Cordes dürfte aus zwei Gründen nicht zu der beliebtesten Facharztgruppe gehören. Erstens, weil die meisten Ärzte sich vor allem für den lebenden Körper interessieren und für seine Heilung. Ihnen reicht wahrscheinlich die Erfahrung aus dem Präp-Kurs.

Warum sollten sie sich ein ganzes Berufsleben lang mit Toten befassen, die übel nach Fäulnis riechen? „Ich sage bei dieser Frage immer, dass es Lebende gibt, die viel schlimmer riechen“, unkt Cordes. Standardwitz. Der Mundwinkel rutscht nach oben. „Ich habe mich jedenfalls total an den Geruch gewöhnt“.

Schon im PJ am Sektionstisch überzeugt

Sein Interesse an der Sache jedenfalls wurde spät im Studium durch eine Vorlesung des Hamburger Gerichtsmediziners Klaus Püschel geweckt, berichtet Cordes. „Die war so mitreißend, dass ich bei ihm einen Präparationskurs belegt habe.“ Und auch im PJ stand Cordes am Sektionstisch. „Nach vier Monaten war klar, dass ich bleibe.“

Zudem gefiel ihm die Klinikroutine nicht. Da schon lieber Schichten schieben in der Gerichtsmedizin! „Von den Toten lernen, um den Lebenden zu dienen“, fasst Cordes den Sinn seiner Arbeit zusammen. So steht es auch in seinem WhatsApp-Kontakt.

Und zweitens? Zweitens, weil Cordes auch Leichen auf den Tisch bekommt, die an Behandlungsfehlern von Kollegen gestorben sind. Sie könnten Cordes für den ungeliebten Kollegen halten, der ihnen ihre Fehler unter die Nase hält. Einmal sollte ein Patient Morphium erhalten.

Aber durch einen Übertragungsfehler in der Dosierung bekam der Patient viel zu viel. „Da war aus Milligramm Gramm geworden“. Der Patient starb. Erstaunlicherweise sei er von Kollegen nie offen für seine Arbeit angefeindet worden, obwohl man es habe erwarten können, berichtet Cordes.

Bei den vielen Schicksalsschlägen, deren Ergebnisse in der Rechtsmedizin landen, hat sich der Arzt allzu tiefes Philosophieren abgewöhnt. „Aber manchmal erschreckt es mich schon, was Menschen einander antun“, sagt Cordes. Mitunter muss er sich Überwachungskameravideos von Schlägereien ansehen, wo die Sieger immer weiter auf den Kopf des Opfers eintreten. Auch manche Fundorte von Toten in völlig verwahrlosten Wohnungen können nachhaltig verstören. Wie sehr kann man abstürzen?

„Da sage ich mir doch: carpe diem“

In manchen Fällen erkennt Cordes sich selber. Da hatte eine Mutter ihr schlafendes Kind im Kindersitz des Fahrrads gelassen und war kurz weg. Das Rad fiel um, das Kind verhakte sich mit dem Riemen seines Helms und wurde stranguliert. Nach einigen Tagen im Krankenhaus starb es.

„Ich habe mich ertappt, dass ich das auch manchmal so mache wie diese Mutter“, so Cordes. „Mir hätte das also genauso passieren können wie ihr. An solchen Fällen sieht man, wie unwahrscheinlich schnell das Leben vorbei sein kann. Mancher verlässt morgens das Haus und kommt mittags durch böse Umstände ums Leben. Da sage ich mir doch: carpe diem.“

Es gibt aber auch ermutigende Fälle, die den Gerichtsmediziner aufbauen. „Einmal ist eine Mutter mit ihrem kleinen Kind im Kinderwagen bei uns vorstellig geworden“, berichtet Cordes. „Das Kind hatte einen auffälligen blauen Fleck auf dem Kopf. Wir vermuteten ein Hämatom. Aber die Untersuchung ergab nichts.

Da kam mein Kollege auf die Idee, mit einem Tuch und Desinfektionsmittel den Fleck zu bearbeiten. Und siehe da: Er ließ sich wegwischen. Wie sich später herausgestellt hat, stammte er von einer neuen blauen Mütze, die das Kind getragen hatte.“ Der Anfangsverdacht der Misshandlung war damit vom Tisch.

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