Interview
Ärzte sprachen von Aids-Patienten als "Aussätzigen"
Eine Bedrohung, nicht selten verglichen mit Cholera und Pest: Medizinethiker Dr. Henning Tümmers erklärt, wie Aids einst bekannte Strukturen in der Medizin zu zerrütten drohte.
Veröffentlicht:Das Interview führte Luise Poschmann
Ärzte Zeitung: Sie sprechen von einer "bedrohten Ordnung" in der Medizin durch das Auftreten von Aids. Was ist damit gemeint?
Dr. Henning Tümmers: Der Begriff sagt nicht unbedingt, dass die gewohnte Ordnung faktisch bedroht war, sondern dass sie als bedroht wahrgenommen wurde. In den frühen 80er Jahren war über Aids nur wenig bekannt und viele Ärzte waren verunsichert.
Die Krankheit brachte das althergebrachte Arzt-Patienten-Verhältnis ins Wanken. Grundlagen der ärztlichen Ethik, die bis zum Hippokratischen Eid zurückgehen, wurden verletzt.
Zum Beispiel?
Tümmers: Es gab Fälle, in denen sich Mediziner weigerten, Menschen mit HIV zu behandeln. Die Schweigepflicht wurde verletzt oder Patienten wurden ohne ihr Wissen auf HIV geprüft. Das waren schwere Eingriffe in das Vertrauensverhältnis von Arzt und Patient.
Welche Unterschiede haben Sie dabei in BRD und DDR festgestellt?
Tümmers: In der Bundesrepublik blieb es bei Einzelfällen, die nichtsdestotrotz zu Irritationen geführt haben. Aber es gab sehr schnell Bemühungen seitens der Ärzteschaft und der Politik, dem mit Verweis auf die medizinische Ethik entgegenzuwirken.
Zwar wurde auch diskutiert, ob mit dem Bundesseuchenschutzgesetz reagiert werden soll. 1987 entschied sich Bonn aber für eine liberale Aids-Politik und startete die Kampagne "Gib Aids keine Chance" der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Und wie war die Situation in der DDR?
Tümmers: In der DDR haben die politisch Verantwortlichen schon sehr früh die internationale Presse verfolgt, schon bevor es überhaupt den ersten erkrankten DDR-Bürger gab. 1983 wurde gewissermaßen ein Katastrophenschutzplan erstellt.
Darin wurde festgelegt, dass im ganzen Staat spezielle Konsultationseinrichtungen für Betroffene geschaffen werden. Außerdem musste jeder Fall ans Ministerium für Gesundheitswesen gemeldet werden. Es gab eine Liste von "Antikörperträgern" in der DDR.
Ihnen wurde mit Strafandrohung verboten, bestimmte Dinge zu tun, etwa Zahnbürsten mitzubenutzen oder ungeschützt Geschlechtsverkehr zu haben.
Regte sich dagegen Widerstand?
Tümmers: Ich habe in den Quellen keine Kritik an diesem Verfahren entdecken können. Die Ärzteschaft war ja aber auch mit dem politischen Kurs vertraut. Allerdings waren es auch Ärztevertreter, die später dann an das Politbüro herantraten und forderten, mit dem Problem an die Öffentlichkeit zu gehen und sich an internationalen Forschungen zu beteiligen. 1988 wurde auch das Deutsche Hygiene-Museum beauftragt, über HIV aufzuklären.
Warum wurde gerade AIDS als eine solche Bedrohung wahrgenommen?
Tümmers: Das hängt mit der Situation damals zusammen. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte die Medizin weltweit viele Erfolge zu verzeichnen, etwa beim Kampf gegen Pocken - diese Epoche galt als "optimistisches Zeitalter".
1981 traten nun die völlig unbekannten Aids-Fälle auf, die aus medizinischer Sicht anfangs extrem diffus waren. Das brachte die Wissensbestände der Medizin ins Wanken. Außerdem war Aids eine radikale Krankheit, die mit einem erschreckenden, schnellen Verfall einherging. Das weckte Urängste.
Inwiefern?
Tümmers: Medien und Mediziner benutzten das Schlagwort der "Seuche", Aids wurde nicht selten mit Pest und Cholera verglichen. Auch Ärzte sprachen von Patienten als "Aussätzigen".
Was änderten die frühen 90er Jahre?
Tümmers: Die DDR sah in der Öffnung der Mauer erst einmal eine weitere Gefahr, zuvor fühlte man sich wie auf einer "epidemiologischen Insel". Schnell wurde aber auch das westdeutsche Konzept übernommen. Ostdeutsche Selbsthilfegruppen partizipierten fortan an politischen Entscheidungen.
Dass eine Normalisierung der Bedrohungswahrnehmung eintrat, war aber vor allem stabilen Fallzahlen und neuen Therapien zu verdanken.
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